Zum 8. März: Internationaler Frauentag 2014

AntóniasGeschichte1 Passage aus "Abschied von Bissau": Kindheit von Antónia, Tochter des Vorarbeiters von Joaquím (bekannt aus den Mindelo-Folgen)

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Foto: African Fever, Mädchen aus Bissau, Autor: Ines Gesell (2001 -2006)

Liebe dFC,

heute ist der 8. März, wieder einmal Internationaler Frauentag, der vor allem auch in "Dritte Welt"-Ländern gefeiert wird. Aus diesem Anlass eine Passage in zwei Folgen (Antónia1+2) aus meinem Roman: "Abschied von Bissau"

Hier kommt die erste Folge von Antónias Geschichte:

An den Zeitpunkt der Unabhängigkeit konnte sich Antónia nicht mehr erinnern. Sie wusste nur, dass sie erst 1975, kurz nach der Unabhängigkeit ihres Landes, eingeschult wurde. Sie war damals sieben Jahre alt. Der „patrão“ sorgte dafür, dass sie eine Schultasche, Hefte und Stifte bekam. Ihre Schule befand sich nahe der Zuckerrohrplantage. Helder, der Mitglied im Organisationskomitee des „bairros“ war, hatte darauf bestanden, die Grundschule gleich nach der Unabhängigkeit wieder in Gang zu setzten, und das trotz der widrigen Umstände, fehlten doch ausgebildete Lehrer, Schulbücher und viele andere Voraussetzungen für einen Erfolg versprechenden Unterricht. Aber die Begeisterung der Guineer über ihre frisch errungene Freiheit und die neue Verantwortung, die öffentlichen Dinge nun selbst in die Hand zu nehmen, hatte bisher brachliegende Energien in den Städten wie auf dem Lande freigesetzt.

Antónia und ihre kleineren Geschwister verlebten eine sorglose Kindheit. Im Gegensatz zu anderen Kindern im „bairro“ lebte sie in einem ‚Steinhaus‘ mit Licht und Wasseranschluss hinter dem Haus. Dort schloss sich ein Obstgarten mit Bananen-, Mango-, Papaya- und Guavenbäumen an. Außerdem hielten ihre Eltern Hühner, einige Schweine und auch eine Kuh, die tagsüber auf dem Gelände der Zuckerrohrplantage immer etwas zum Fressen fand. Joaquím hatte seinen Arbeitern auf einem begrenzten Teil der Plantage, die in der Trockenzeit künstlich bewässert wurde, erlaubt, Reis, Mais, Maniok, Süßkartoffeln, Bohnen und Gemüse für ihren Eigenbedarf anzubauen.

Wegen der großen Hitze und Feuchtigkeit liefen die Kinder tagsüber halb nackt umher, ebenso wie ihre Mütter und Väter, die mit bloßem Oberkörper ihre Arbeit verrichteten. Von Kindesbeinen an war für Antónia direkter Körperkontakt mit der Mutter, die ihre Kinder bis zum dritten Lebensjahr auf ihrem Rücken trug, mit den Geschwistern und Nachbarkindern etwas Selbstverständliches. Das nackte Herumspringen, wenn der erste große Regen nach der Trockenzeit über Bissau hereinbrach und die Wege im „bairro“ zum Überlaufen brachte, sowie die Reiterei auf der Kuh, die die Kinder aus Übermut veranstalteten, waren besondere Momente für Antónia, in denen sie ihre kindliche Freiheit zusammen mit den Geschwistern und Freundinnen unbeschwert und ohne Verbote der Erwachsenen ausleben konnte. Völlige Nacktheit und körperlicher Umgang mit den Brüdern und männlichen Erwachsenen wurde erst nach der Einschulung zu einem Tabu. Die Schwestern, die Mutter, die Tanten und Cousinen untereinander hielten jedoch ihren ungezwungenen Körperkontakt weiterhin aufrecht. Besonders der Samstagnachmittag war für alle weiblichen Mitglieder der Familie wie ein ‚heiliger Ritus‘. Erst kam das Waschen und Planschen an der Wasserstelle hinter dem Haus. Normalerweise war es Antónias Mutter, die mit der aus Ölpalmkernen und Asche gekneteten Seife zuerst die Mädchen der Familie einzeln wusch. Dann kamen die jungen und erwachsenen Frauen an die Reihe, die sich gegenseitig abseiften. Schließlich versammelten sich die Mädchen und Frauen in Gruppen unter den Mangobäumen und begannen mit dem Haarearrangieren. Jede Frisur musste besonders sorgfältig ausgeführt werden; dabei setzte sich ein Mädchen oder eine Frau in den Schoss ihrer ‚Friseurin‘ und ließ sich von deren erfahrenen Händen verwöhnen. Das Befühlen und Betasten des eigenen Körpers, vor allem beim Waschen vor Einbruch der Dunkelheit, war für Antónia eine Gewohnheit wie das Essen und Trinken.

Von ihrem Vater hörte Antónia, dass der „patrão“ vorerst beide Zuckerrohrplantagen nach der Unabhängigkeit des Landes behalten durfte, und dass er sich entschieden hatte, im Lande zu bleiben. Die neue Regierung brauchte dringend Steuereinnahmen, um den Staatsapparat zu finanzieren. Auch hatte sich das Gewerkschaftskomitee für den Verbleib der beiden Farmen in Privatbesitz ausgesprochen. Sie fürchteten, dass die Rentabilität bei Eigenverwaltung oder staatlicher Regie nicht aufrechterhalten werden könnte. Abschreckende Beispiele gab es genug, wie Betriebe nach der Verstaatlichung und der Auswanderung der ehemaligen Besitzer in wirtschaftliche Krisen gerieten, und die Löhne der Arbeiter ausblieben.

Antónia, wie auch die anderen Kinder der Farmarbeiter, profitierten von dieser Entscheidung des „patrão“. Er half dem Bairro-Komitee, die Grundschule instand zu setzen, neue Bänke und Tische anzuschaffen und auch Lehrmaterialien für die Kinder zu finanzieren. Zu jedem Schuljahresende trug er dazu bei, ein großes Fest für die Kinder auf die Beine zu stellen. Antónia, die regelmäßig die besten Noten hatte, bekam von ihm zur Belohnung Bücher geschenkt, die Geschichten aus fernen Ländern erzählten, oder er nahm sie mit in seinem großen Lastwagen zu der zweiten Zuckerrohrfarm, die in dem Gebiet der Balante lag. So hatte er sich früher auch oft die Nähe seiner eigenen Kinder gewünscht, doch der Einfluss der Mutter machte das unmöglich. Das größte Glück für Antónia lag darin, wenn sie dem „patrão“ vorlesen durfte. Da gab es Geschichten aus Ägypten und dem Morgenland, aus der Wüste, dem Amazonasgebiet, dem indonesischen Urwald oder aus Tibet; in ihrer Fantasie lernte sie die halbe Welt kennen und machte Bekanntschaft mit Kindern aus den verschiedensten Kulturkreisen. Was ihr Joaquím von Anfang an beibrachte, war der Stolz auf die eigene Herkunft. Auch wenn ihre Eltern arm waren, auch wenn sie selbst ein schwarzes Mädchen war, es gäbe überhaupt keinen Grund, darüber unzufrieden zu sein. Sie könnte die ganze Welt erobern, wenn sie nur wollte. So wie Joaquím aus dem unberührten Land eine blühende Zuckerrohrfarm erschaffen hatte, so könnte sie sich später auch ihre eigene Zukunft bauen. Niemand würde sie daran hindern können, wenn sie es sich ernsthaft vornähme. Anfangs war Antónia noch schüchtern, ihre Neugierde auszuleben, um Joaquíms glatte Haare oder die von der Sonne gegerbten Arme zu betasten, die sich so ganz anders als ihre eigenen oder die ihrer Geschwister anfühlten. Aber er kam ihr offen entgegen und beteuerte immer wieder, dass es zwischen Menschen verschiedenster Hautfarbe nichts gäbe, was sie daran hindern könnte, sich gegenseitig anzuerkennen und zu lieben. So wurde er allmählich wie ein zweiter Vater für sie.

Im Jahre 1980 wurde Antónia erstmals die politische Situation ihres Landes bewusst. Sie war in der letzten Grundschulklasse und freute sich schon, im kommenden Jahr in die Oberschule zu wechseln. Es gab einen Putsch im Land: Der erste Präsident des unabhängigen Guinea Bissaus, Luis Cabral, Bruder des noch vor der Unabhängigkeit ermordeten Amilcar Cabral, wurde abgesetzt, und ein Revolutionsrat mit „camarada“ Nino an der Spitze, übernahm die Regierungsgewalt. Zwar hatte Antónia etliche Unterhaltungen zwischen ihrem Vater und Joaquím über die kritische Situation im Lande mit angehört, den Inhalten aber wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Lediglich hörte sie aus den Gesprächen eine große Enttäuschung über die PAIGC und ihre Art zu regieren heraus. Die Minister, die hohen Parteikader, eben die „gente importante“, die wichtigen Leute, hätten nur ihr eigenes Interesse im Sinn, das Volk sei schon nach weniger als zwei Jahren Unabhängigkeit in Vergessenheit geraten. Reisen ins Ausland, Verträge mit anderen Regierungen und Weltbank hätten dem Land viel Geld gebracht, von dem allerdings das Volk nicht profitierte. Teure Projekte stünden wie verlassene Museen im Land und würden nicht funktionieren. Der Geheimdienst wäre darauf ausgerichtet, die Privilegien hauptsächlich der Kapverdier in der Regierung, abzusichern.

Antónia verstand wenig von diesem Politikkauderwelsch. Nur eines behielt sie gut in Erinnerung: Joaquím, Helder und die anderen Farmarbeiter hatten die Hoffnung, dass Nino und seine Freunde jetzt mehr auf das Volk hören und auch die Landwirtschaft stärker fördern wollten. Die meisten weißen Kooperanten aus den westlichen Ländern, die tatkräftig dabei geholfen hatten, zahlreiche Kredite und Projekte in das kleine Land zu holen, die den Guineern in kürzester Zeit den größten Prokopfschuldenberg in der Welt einbrachten, wurden des Landes verwiesen.

„Camarada“ Nino, der neue Präsident des Landes, war wichtigster Kommandeur der Widerstandskämpfer gewesen und wurde nach der Unabhängigkeit Chef der neuen Armee und Verteidigungsminister des Landes. Als solcher wurde er sich bald bewusst, dass die eigentlichen Machthaber im neuen Staat die Militärchefs waren. Die Armee war mithilfe der sozialistischen Staaten einigermaßen mit Waffen ausgerüstet und verfügte über eine gute Disziplin. Ihre Kommandeure hatten zumeist ihre Ausbildung in den sozialistischen Ländern absolviert, ihre Soldaten waren ausnahmslos junge Bauernsöhne, die sich in den Jahren zuvor begeistert dem nationalen Widerstand gegen die Kolonialmacht angeschlossen hatten. Die meisten unter ihnen gehörten den Balante und Pepel an. Diese waren die zahlenmäßig wichtigsten animistischen Völker im Lande und waren in einer horizontalen Gesellschaftsstruktur organisiert, in der es keine sozialen Unterschiede zwischen den Chefs der Familien gab. Das jeweilige Siedlungsgebiet eines Volkes gehörte allen und wurde je nach Bedarf an die einzelnen Familien einvernehmlich verteilt. Die Balante und Pepel, die in dem Gebiet zwischen Bissau und Bafatá und auch im Norden zur senegalesischen Grenze hin wohnten, hatten es während des Kolonialismus strikt abgelehnt, sich von der katholischen Kirche missionieren zu lassen. Sie übten weiterhin ihre traditionellen Religionen aus, deren Versinnbildlichung in den Phänomenen der Natur verankert war. Auch Antónias Familie, die nicht weit entfernt vom Zentrum Bissaus wohnte, hatte hinter dem Haus einen riesigen, alten Mangobaum, an dessen Fuße sich ein kleines Holzhäuschen befand. Vor diesem brachte Helder im Beisein der ganzen Familie zu verschiedenen Anlässen Opfer dar, meist ein Hühnchen oder andere Esswaren. Dann sprach er zu dem im Baume wohnenden ‚Familiengott‘ und bat ihn um Schutz für die Familie und um reichliche Ernte.

Auch die Mandinga und Fula, seit jeher islamisierte und sozial stark hierarchisierte Völker in Guinea Bissau und in der Sahelzone, waren in der Armee vertreten. Die PAIGC hatte jedoch gemäß ihrer sozialistischen Ideologie die Religionsausübung untersagt und stattdessen sozialistische und militärische Rituale eingeführt, um die Einheit der Armee zu gewährleisten. Doch Nino und andere Militärchefs waren sich der Einheit der Armee nicht so sicher. Aus Erfahrung wussten sie, dass die Väter der jungen Soldaten, die oft einflussreiche Clanchefs waren, nach wie vor einen bedeutenden Einfluss auf ihre Söhne in der Armee ausübten. Der Putsch war unter anderem dadurch zustande gekommen, dass die Bauernsöhne in der Armee auf Druck ihrer Väter hin eine Korrektur der Regierungspolitik verlangten, und ihre Kommandeure diese Gelegenheit willkommen aufgriffen, um sich der herrschenden Nomenklatura zu entledigen. Diese gehörte zumeist der Schicht der Intellektuellen und Kleinbürger an, die ihre familiären Ursprünge auf den Kapverdischen Inseln hatten.

All diese politischen komplizierten Zusammenhänge wurden Antónia geduldig von ihrem Vater erklärt. Er stellte sich vor, dass seine Tochter und seine anderen Kinder einmal zu den ‚Neuen Guineern‘ gehören könnten. Dabei glaubte er nicht an das, was die Partei propagierte, nämlich dass die angestammte Kultur der Pepel wie der anderen Völker auf Ignoranz und Obskurantismus beruhte und in Zukunft durch eine sozialistische Kultur ersetzt werden müsse. Für ihn und auch viele andere Pepel hatte das kulturelle Erbe eine wichtige Bedeutung für zukünftige Generationen. Nur müsste dieses Erbe irgendwie weiterentwickelt werden. Wie, das war ihm nicht klar. Darum stritten sie sich im Bairro-Komitee, wo auch viele Balante und einige Mandinga Mitglieder waren. Selbst Joaquím wurde in diese Diskussionen hineingezogen, die oft nach getaner Arbeit unter den Mangobäumen bei einem Schluck „aguadente“ stattfanden.

Nicht lange nach dem Putsch trat die neue Regierung an Joaquím heran, um dem Regime bei der Einrichtung von Kooperativen zu helfen. Teile der Armee sollten demobilisiert werden. Die jungen Widerstandskämpfer müssten in das zivile Leben zurückkehren und zum nationalen Wiederaufbau tatkräftig beitragen. Die PAIGC wusste, dass Joaquím der beste Kenner und Praktiker der guineischen Landwirtschaft war. Die Regierung hatte die Idee, zuerst einmal eine Musterkooperative für zweihundert ehemalige Kämpfer einzurichten. Joaquím hätte darüber absolute Entscheidungsfreiheit. Zwei ehemalige Kompanieführer würden ihm zur Seite gestellt, um die Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten.

Joaquím willigte in den Vorschlag ein und sagte zu, jede zweite Woche auf der neuen Farm zu sein, die in dem großen Waldgebiet südwestlich von Bafatá, eingerichtet werden sollte. Er wollte seine Kenntnisse und auch zwei erfahrene Arbeiter sowie einen Traktor und einen Lastwagen unter der Bedingung zur Verfügung stellen, dass er seine Steuern erlassen bekäme.

Helder und noch ein anderer Arbeiter seiner Farm in Bissau begleiteten Joaquím in das Gebiet, wo die neue Zuckerrohrplantage geplant war. Die Regierung hatte auch die Idee, später eine Zuckerfabrik zu errichten sowie Mango und Bananen für den Export zu produzieren. Zu Beginn des Unternehmens wurden die Wohnmöglichkeiten, Latrinen, Waschplätze und eine Küche für Joaquím und seine beiden Arbeiter sowie für die demobilisierten jungen Widerstandskämpfer errichtet. Ein Generator sorgte für Strom. Derweil übernahm João die Leitung der Farm in Bissau. Nach zwei Wochen kehrten Joaquím und Helder für eine Woche nach Bissau zurück. Sie waren zufrieden über die Einrichtung des Lagers und wollten nach einer Ruhepause mit der eigentlichen Urbarmachung der neuen Plantage beginnen. Bisher verliefen die Arbeiten zügig, die jungen Männer waren willig und begannen, ersten Kontakt mit den umliegenden Balante- und Mandinga-„tabancas“ aufzunehmen.

Antónia wollte von ihrem Vater und Joaquím alles genau erklärt bekommen, wie sie diese neue Farm aufbauten. Wenn sie die nächsten Schulferien bekäme, wollte sie auf jeden Fall ihren Vater und Joaquím begleiten. Für sie war das Leben auf der Farm neben den Büchern das Interessanteste in ihrem Leben. Sie liebte die verschiedenen Gerüche auf der Farm: Die frisch aufgeworfene Erde vor dem Pflanzen roch anders als das Zuckerrohrfeld zur Blütezeit oder bei der Ernte. Die angrenzenden Reisfelder hatten ihrerseits ihr eigenes Aroma. Vor allem auch die Regenzeit verlieh der Erde und seiner unterschiedlichen Vegetation eine jeweils andere Ausdünstung. Antónia hätte bei verbundenen Augen ohne Schwierigkeiten erraten, welche Pflanzen um sie herum wuchsen.

Joaquím hatte inzwischen verstanden, dass das sozialistische Experiment der PAIGC nicht so geradlinig verlaufen würde, wie es sich die Partei anfangs vorgestellt hatte. Schon gleich nach der Unabhängigkeit wurden die unterschiedlichsten Interessen innerhalb der Nomenklatura sichtbar. Das einzig Bindende schien die Teilhabe an der Macht und die persönliche Bereicherung zu sein. Der üppige Zugang zur internationalen Entwicklungshilfe weckte Begierden, auch so leben zu wollen, wie einst die Kolonialisten. Die Ideologie der PAIGC wurde zum Leidwesen der sozialistischen Berater aus der Sowjetunion und der DDR für viele führende Kader zu einem beinahe lästigen Beiwerk. Das änderte sich auch nicht nach dem Putsch. Jetzt begann erst recht der Verteilungskampf um die Pfründe. Die neue Führungsschicht setzte sich fast ausschließlich aus Söhnen und Töchtern guineischer Bauern zusammen, die unter ärmsten Verhältnissen aufgewachsen waren und mit einem Mal einen Lebensstandard erreichten, der ihnen in der Kindheit unvorstellbar gewesen war. Diese Begierde nach Konsumgütern, die scheinbar ohne eigene Anstrengung, lediglich durch die Position innerhalb der Nomenklatura befriedigt werden konnte, und der ‚Futterneid‘ gegenüber den anderen „camaradas“ infizierten wie ein schleichendes Gift die Parteistrukturen bis ins Militär hinein und dort bis in die untersten Ränge.

In dem neu errichteten Lager teilte sich Joaquím sein Leben mit den Arbeitern und den jungen Kämpfern, ohne besondere Privilegien zu genießen. Er hatte zwar ein eigenes und geräumiges Zelt, hatte eine Latrine und einen Waschplatz mit einer Dusche, die er sich mit den beiden Arbeitern teilte, ansonsten aber unterschieden sich seine Lebensbedingungen nicht von denen der Kämpfer. Mit diesen und den beiden ehemaligen Kompanieführern entwickelte sich im Laufe der Zeit ein vertrauensvolles Verhältnis, das vor allem dadurch zustande kam, dass Joaquím selbst bei allen Arbeiten Hand anlegte. Er fühlte sich in seinem Element, wenn es darum ging, die Rodung zu organisieren und das Land urbar zu machen. Er wusste genau, welche Böden für welche Kulturen am geeignetsten wären, und wie das Bewässerungssystem angelegt werden müsste.

Als Antónia in den Ferien zusammen mit Joaquím und ihrem Vater auf die Farm fuhr, war ein Teil der zukünftigen Plantage bereits mit Zuckerrohr bepflanzt und die ersten Mango-Stecklinge und jungen Bananenpflanzen in die Erde gebracht. Daneben wurde ein weiträumiges Areal abgesteckt, um Maniok und Bohnen sowie Reis anzupflanzen. Die verschiedenen Kulturen sollten durch Aussaat von Bambus voneinander getrennt werden. Absicht war, die Selbstversorgung der ehemaligen Kämpfer mit Nahrungsmitteln so bald wie möglich herzustellen. Öl- und Kokospalmen gab es genug in der näheren Umgebung, um Speiseöl und Seife zu erzeugen. Auch gab es Flussauen, um Rinder zu halten, denn ein Nebenfluss des „Rio Geba“ durchquerte das Gebiet. Im Übrigen schlug Joaquím vor, ein ausgedehntes Waldstück als biologisches Reservat in seinem ursprünglichen Zustand zu belassen.

Die Besuche auf der neuen Farm weckten in Antónia den Wunsch, später einmal alle Geheimnisse der Landwirtschaft zu erlernen, um auch so ein freies Leben wie Joaquím leben zu können. In der Schule wurden Biologie, Geografie und Geschichte zu ihren Lieblingsfächern. Aber auch der Sport hatte es ihr angetan. Mit anderen Kindern aus dem Bairro spielte sie Fußball oder veranstaltete sie Wettrennen um die Reisfelder in der Nachbarschaft.

Es folgten die Jahre der Pubertät und das Ereignis der ersten Menstruation. Antónia entwickelte sich immer mehr zu einer groß gewachsenen, schönen, jungen Frau, die sich nach und nach ihrer Sexualität bewusst wurde. Nicht nur in der Schule wurde das Thema Sexualität und Familienplanung besprochen. Auch ihre Mutter und die ‚weisen Frauen‘ der Pepel versammelten die jungen Mädchen des Bairro in den Vollmondnächten draußen auf der Zuckerrohrplantage und sprachen mit ihnen über ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter. Antónia machte nicht die gleichen Initiationsriten mit, die ihre Mutter noch in ihrem Pepel-Dorf als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben durchlief. Aber sie begann zu ahnen, wie das Leben ihrer Mutter und Großmutter einseitig auf das Kindergebären, die Kinderaufzucht und die Pflichten der Frau gegenüber dem Ehemann ausgerichtet war. Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter zwar äußerlich zufrieden schien mit ihrem Leben, aber ihr neuerliches Engagement in dem Bairrokomitee war auch ein Zeichen, dass sie außerhalb des Hauses und der Familie zusätzliche Herausforderungen und Anerkennung suchte.

Das Duschen und gegenseitige Abseifen zusammen mit den anderen Frauen und Mädchen bereitete Antónia ein neues unbekanntes Vergnügen. Das Berühren ihrer straffen Brüste, das Waschen ihres Unterkörpers, insbesondere des empfindlich gewordenen Intimbereichs und ihrer Unterschenkel, erzeugte jedes Mal ein leichtes inneres Erschauern und das Bedürfnis, die Dauer der neuen Gefühle zu verlängern. Auch wollte sie wissen, ob ihre Freundinnen die gleichen Empfindungen hätten. Manchmal, wenn die älteren Frauen nicht zugegen waren, gaben sich die Mädchen der Waschzeremonie betont ausgiebig hin und begannen, sich gegenseitig die Brüste und den ganzen nackten Körper zu streicheln.

Antónias Verhalten gegenüber den Männern änderte sich, ohne dass ihr das anfangs klar wurde. Sie wurde unnahbarer. Vielleicht wollte sie sich unbewusst schützen vor etwas, das sie noch nicht kannte. Wenn die Schulkameraden, besonders die älteren, sie provozieren wollten, und sie von oben bis unten betrachteten, wendete sie sich ab und fand dieses Benehmen ungehörig. Doch irgendwie empfand sie auch Stolz, dass sie die Aufmerksamkeit der Anderen erregte und sagte sich, dass sie doch irgendetwas besitzen müsse, was Männer dazu brächte, sich ihr gegenüber so zu benehmen. Sie selbst betrachtete ihre Mitschüler auch mit anderen Augen. Da waren besonders die Interessierten, die Sportlichen und die Gutaussehenden, die es ihr angetan hatten. Aber es mussten vor allem Jungen sein, die ihre Vorlieben teilten.

Mit Joaquím wurde das Verhältnis komplizierter. Auch er reagierte anders als früher: immer noch väterlich, aber doch auch mehr als ein Mann, der sie jetzt weniger als Kind sondern als junge Frau betrachtete. Diese Veränderung ging ganz allmählich vor sich; sie war auch nicht mehr so unbefangen kindlich ihm gegenüber. Wenn sie jetzt zusammen auf dem Traktor in den Nachmittagsstunden die Farm abfuhren, übernahm sie immer häufiger das Lenkrad. Die Gespräche zwischen beiden waren nicht länger einseitige Erklärungen vonseiten Joaquíms und kindliche Fragen ihrerseits; es wurden immer mehr Gespräche, in die sie ihre eigene Meinung einbrachte und ihm ohne Scheu widersprach, wenn sie anderer Auffassung war. Bei all diesen Veränderungen, die Antónia durchlebte, schien es ihr doch so, dass ihre Unsicherheit über ihre neue Situation als Heranwachsende von Joaquím mit stärkerer Teilnahme begleitet wurde, weil auch er sich in einer Unsicherheitssituation befand. Etwas musste ihm in seinem persönlichen Leben fehlen, und auch die politische Lage des Landes schien seine Situation auf der Farm immer stärker zu beeinflussen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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