"Ich gehe auch bei Rot über die Straße"

Alltagsrituale (13) Wie erleben Zuwanderer den Alltag in Deutschland? In unserer Serie beschäftigt sich diesmal der US-Amerikaner Craig Williams mit dem deutschen Straßenverkehr

Der Straßenverkehr kann ein Sinnbild für eine ganze Kultur sein. In Italien etwa, ob nun als Fußgänger oder als Autofahrer, sollte man sich den Verkehr als fließendes, scheinbar chaotisches, aber doch funktionierendes Ganzes vorstellen. Um weiterzukommen, muss man sein Bewusstsein für die Umgebung schärfen, sich ein Bild von der Gruppendynamik machen und sich dem Fluss der Dinge anvertrauen. Und los!

Einen krasseren Gegensatz zu Rom als Berlin kann ich mir kaum vorstellen. Bei meinem ersten Besuch in Berlin sah ich an jeder halbwegs wichtigen Straßenkreuzung bereit stehende Ampelmännchen, ob in der östlichen oder in der westlichen Variante. Als Fußgänger konnte man sich getrost auf sie verlassen. Es mag verwundern (mittlerweile wundert es auch mich), aber jenseits des Atlantik, in meiner amerikanischen Heimat, ist es mir mehrmals passiert, dass ich von gebieterischen Autofahrern gedrängelt, angehupt und sogar angeschrien wurde – selbst wenn ich bei Grün den Fußgängerstreifen benutzte. Selbstverständlichkeiten sind eben nicht überall selbstverständlich. Und der berühmt-berüchtigte deutsche Ordnungssinn hat durchaus auch positive Seiten.

Böse Blicke und bellender Ruf

Aber natürlich nicht nur. Bei einer Sitzung des Sprachkurses, den ich während meines ersten Jahres in Berlin besuchte, schlug die Lehrerin vor, dass wir unsere Eindrücke vom Leben in Berlin und von der deutschen Kultur allgemein austauschen – die positiven wie die negativen. Anfangs fiel es uns schwer, kritische Bemerkungen zu wagen, denn man möchte ja ein guter Gast sein. Nach ersten, durchaus ernst gemeinten Lobreden brach es aber nach und nach aus uns heraus. Wir wunderten uns alle über die Fußgänger und die Fahrradfahrer. Warum, fragte ein Teilnehmer zaghaft, sind die Fahrradfahrer so selbstzufrieden und aggressiv? Meinen sie etwa, aus ökologischen Erwägungen eine moralische Überlegenheit beanspruchen zu können – auch den Fußgängern gegenüber? Weshalb, fragte ein Teilnehmer, bleiben die Fußgänger bei Rot stehen, auch wenn es weit und breit keinen Straßenverkehr gibt, wenn also überhaupt keine Gefahr besteht? Wieso, hakte ich selber nach, ärgern sich die Leute, wenn man eine autoleere Straße bei Rot überquert?

Ich hatte diese – für viele Deutsche offenbar tollkühn anmutende – Entscheidung mehr als einmal getroffen und war nicht nur mit bösen Blicken belohnt worden, sondern auch mit dem bellenden Ruf: „Es ist rot!“ (Das Äquivalent unter Autofahrern, wie ich später erfuhr, ist das belehrende Hupen, wenn man etwa aus der falschen Spur abbiegen will – auch, wenn keine Gefahr eines Zusammenpralls besteht.) Tja, meinte die Lehrerin, das sei so eine Sache. Entschuldigend wies sie auf einen überentwickelten Sinn für Disziplin und Gehorsam hin. Etwas verlegen gab sie zu, dass sie selbst manchmal bei Rot gegangen sei, entschieden ergänzte sie jedoch, dass sie so etwas selbstverständlich nie tue, wenn Kinder anwesend seien. Man müsse ja Vorbild sein. Später wurde mir bewusst, dass diese Bemerkung nicht von ungefähr kam. Bei einem Besuch in Bonn stand ich vor einem mahnenden Warnschild: „Nur bei Grün! Den Kindern zum Vorbild!“

Regeln gelten nicht absolut

Sollen die Kinder etwa nicht lernen, dass sich nicht alle Menschen immer an die Regeln halten? Soll es etwa vorbildhaft für Kinder sein, dass man blindlings den Regeln folgt, nur, weil es Regeln sind? Wäre es nicht im tieferen Sinne vorbildhaft, den Kindern beizubringen, dass in bestimmten Situationen – etwa an einer autoleeren Straßenkreuzung – bestimmte Regeln eben nicht absolut verbindlich sind? Sollen also Kinder nicht eher lernen, unter Aufsicht von Erwachsenen das eigene Urteilsvermögen sowie eine gegenseitige Rücksichtnahme zu entwickeln?

Dahinter steckt ein auf beiden Seiten des Atlantiks strapazierter, aber unterschiedlich gedeuteter Begriff: Freiheit. Kein Tempolimit auf vielen Strecken der Autobahn? Undenkbar in den USA. Das Fehlen der verhassten wie gefürchteten Speed Traps, der Blitzer? Für einen Amerikaner ist es ein befreiendes Gefühl, nicht in eine Radarfalle geraten zu können, die eine Verfolgungsjagd samt persönlicher Konfrontation mit einem bewaffneten, oft argwöhnischen Polizisten zur Folge hat.

In der mittelgroßen Stadt, in der ich meine Kindheit verbrachte, gab es noch keine Fußgängerampeln. Als diese dann an den Laternen auftauchten und anfingen, ihre abwechselnd grünen und roten Befehle zu erteilen („Walk!“ oder „Don’t walk!“), erklärte mir mein Vater eines Tages, ich dürfe sie ruhig ignorieren, sie seien ja im Grunde überflüssig. Ich solle mich aber, so der väterliche Rat an den 12-Jährigen, immer vorsichtig umschauen und, wenn keine Gefahr in Sicht ist, einfach losgehen. Auch wenn es rot ist.


Über die feinen Unterschiede freuen

Weltweit werden bei etwa 1,1 Milliarden Fahrzeugen jährlich ca. 1,2 Millionen Menschen auf Straßen getötet. In Deutschland fällt die Zahl der Verkehrstoten stetig (Höhepunkt 1970: über 21.000). Das ist jedoch nicht etwa vorbildlichem Verkehrsverhalten geschuldet, sondern einer verbesserten Sicherheitstechnik und erfolgreicher Verkehrssteuerung. Diese Entwicklung kann man in allen Industrienationen beobachten, unabhängig von den Ordnungseinstellungen.

Das individuelle Verkehrsverhalten, in dem man nationale Unterschiede auszumachen glaubt, sagt angesichts der hohen Gleich­förmigkeit der täglichen Verkehrsbewegungen in den hoch­industrialisierten Staaten wenig aus. Verschiedene Erziehungsstile in der westlichen Welt wirken sich statistisch kaum aus. Die großen Unterschiede zu uns sieht man eher in Städten wie Kairo, Daressalam oder Neu-Delhi. In Deutschland, Italien, den USA oder Schweden müssen wir uns dagegen fast freuen, wenn wir die feinen Unterschiede überhaupt noch wahrnehmen.

Hartmut Böhme lehrt Kulturtheorie am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Er begleitet die Serie mit kurzen, theoretischen Einordnungen

In der Reihe Wie uns die Anderen sehen, konzipiert von Hanna Engelmeier und Marco Formisano, haben wir eine besondere Gruppe von Zuwanderern in Berlin um ihren alltags-kulturellen Blick auf die Stadt gebeten: Wissenschaftler, Architekten, Mediziner, Schauspieler und Künstler erzählen von ihrer bisweilen schon vertrauten, aber oft auch noch fremden Heimat. Durch ihre Arbeit haben sie einen geregelten Zugang zu Stadt und Bewohnern, aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Gespür für die Unterschiede in der Bedeutung alltäglicher Praktiken.

Im nächsten Teil der Serie erzählt die Schweizer Malerin Valérie Favre, warum es sie einst nach mehreren Jahren in Paris in die Berliner Künstlerszene zog und wie sich in ihren Augen die Stadt im vergangenen Jahrzehnt verändert hat.

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