Die Hofdame Albertine Ernestine Charlotte von Stein war verheiratet, 33 Jahre alt, hatte sieben Kinder geboren und war vom Leben enttäuscht. Sie erwartete von Männern nichts Gutes mehr, als sie im Jahre 1775 einen jungen Nachwuchsdichter kennen lernte. Er war vom Herzog Carl August an den Weimarer Hof geholt worden, er hatte den skandalösen Liebesroman Die Leiden des jungen Werthers geschrieben und war bekannt für seine Flirts und sein schlechtes Benehmen. Er verliebte sich in sie. Sie nahm seine Leidenschaft mit derselben Fassung hin wie ihr bisheriges weibliches Geschick. Sie wurde seine Freundin, war es zwölf Jahre lang. Körperliche Nähe mied sie mit Rücksicht auf ihre Ehe und die Regeln des Anstands.
Der Germanist Helmut Koopmann beschreibt die Geschichte einer Liebe anhand der fast 1800 Liebesbriefe Goethes, die er umständlich auslegt und auf ihre poetische Gestaltungskraft hin analysiert. Die Briefe der Frau von Stein an Goethe sind nicht erhalten. Ein "unersetzlicher Verlust" sei das, doch kein "gar so großer", denn sie "dürften nicht im entferntesten an das herangekommen sein, was Goethe ihr zu sagen, zu schreiben hatte. Sie dürften, was die sprachliche Qualität und die Intensität der Aussage angeht, allenfalls zweitrangig gewesen sein", nur eine "reizvolle Ergänzung".
Goethe hat 1777 ein einfühlsames Kreideporträt seiner Freundin gezeichnet. Sie sieht da hübsch, streng und etwas verhärmt aus. Ihre Frisur ist starr über der hohen Stirn aufgetürmt. "Man hat Mühe zu verstehen", so Koopmann, warum Goethe sich in sie verliebte: so stelle man sich doch "bestenfalls eine ältere, mütterliche Freundin" vor. Wenige Jahre später hat sie sich selbst porträtiert: jugendlich, mit aufgelösten langen Locken, großen schwarzen Augen und dichten dunklen Brauen, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Die wiedergewonnene Lebenslust spricht aus ihren Zügen. Später gestand sie: "Ich habe keine glückliche Natur, bei mir vernarbt keine Wunde."
Die starke, in ihrer Widersprüchlichkeit fesselnde Frau wird bis heute meist aus der Perspektive Goethes betrachtet.
In seinem international erfolgreichen Stück Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe hat Peter Hacks nur scheinbar den üblichen Blickwinkel aufgegeben, indem er allein Charlotte zu Wort kommen lässt. Soviel Verständnis er für sie beweist, es geht ihm um sein eigenes Verhältnis zu dem von ihm bewunderten Klassiker. Er betrachtet ihn mit den Augen seiner Freundin, er liebt sich selbst in ihm. Er zerlegt, demontiert die Beziehung, erfindet boshaft Details. Eine Liebesnacht habe es gegeben, Goethe habe sexuell versagt, zur Freude der frigiden Charlotte, die ihn daraufhin habe heiraten wollen. Nach der heimlichen Abreise Goethes habe sie aus Italien seinen brieflichen Heiratsantrag erwartet. Hacks lässt sie unter der Erkenntnis ihres Irrtums zusammenbrechen.
Frau von Stein reagierte jedoch anders. Nachdem Goethe sie verlassen hatte, forderte sie schroff ihre Briefe zurück. Er, erschrocken, schrieb ihr noch im Februar 1787 aus Italien: "An Dir häng ich mit allen Fasern meines Wesens. Es ist entsetzlich, was mich oft Erinnerungen zerreissen. Ach, liebe Lotte, Du weißt nicht, welche Gewalt ich mir angetan habe und antue, und daß der Gedanke, Dich nicht zu besitzen, mich doch im Grunde (...) aufreibt und aufzehrt."
Nach seiner Rückkehr nach Weimar schnitt sie ihn. Sie weigerte sich, die Beziehung in eine Freundschaft umzuwandeln, wie es ihm vorschwebte. Als sie erfuhr, dass er sich mit der jungen Arbeiterin Christiane Vulpius traf, drall, sinnlich und ungebildet, das ganze Gegenteil ihrer Vorgängerin, zeigte sie sich tief getroffen. Aus Standesdünkel, heißt es. Goethe schrieb ihr: "Und welch ein Verhältniß ist es? Wer wird dadurch verkürzt? Wer macht Anspruch an die Empfindungen, die ich dem armen Geschöpf gönne?" Eine Abrechnung schien ihm gleichwohl fällig: "ich gestehe gern, die Art wie du mich bißher behandelt hast, kann ich nicht erdulden. Wenn ich gesprächig war hast du mir die Lippen verschloßen, wenn ich mitteilend war hast du mich der Gleichgültigkeit, wenn ich für Freunde thätig war, der Kälte und Nachlässigkeit beschuldigt. Jede meiner Minen hast du kontrollirt, meine Bewegungen, meine Art zu seyn getadelt und mich immer mal a mon aise gesetzt." Sie trinke zu viel Kaffe und überreize dadurch ihre Nerven.
Die Biographie der Frau von Stein wird auch ohne polemische Absicht zur Beschreibung verpasster Möglichkeiten, verkümmerter Begabungen, brachliegender Kenntnisse, Fähigkeiten und Emotionen. Charlotte von Stein war imstande, sich literarisch auszudrücken, aber da sie ihre geringen Chancen sah, erprobte sie sich selten. Ihre Ideale erwiesen sich als unrealisierbar. Ihr Modell einer Seelenfreundschaft mit Goethe, von ihm zunächst bejaht, scheiterte. An seiner Bequemlichkeit, wie sie meinte.
1794 schrieb Charlotte von Stein das Trauerspiel Dido. Es geht um die Königin von Karthago, die nach der Ermordung ihres Gatten geschworen hat, nie wieder zu heiraten. Der afrikanische König Jarbas bedrängt sie. Um sich ihr Land anzueignen, will er sie zur Ehe zwingen und droht bei Verweigerung mit Krieg. Dido flieht und versteckt sich. Da Unruhen ausbrechen und ihre Freunde bedroht sind, folgt sie ihrem Gewissen und kehrt zurück. Vom Pöbel aufgerufen, Jarbas´ Frau zu werden, lenkt sie scheinbar ein. Kurz darauf nimmt sie sich bei einer Opferzeremonie das Leben.
Die Tragödie ist einseitig als Aufarbeitung der Beziehung zu Goethe verstanden worden. Themen des Trauerspiels sind die Frauenherrschaft, der Machtkampf zwischen den Geschlechtern und die Treue zu Idealen. Die Hofdame Elissa kommt zum negativen Urteil über die Männer als solche: "O zerstörendes Geschlecht! Ohne euch wäre uns die Krieglust unbekannt. Warum gabst du, Natur, den Männern dieses Treiben, diese Tatensucht, um den ruhigen Gang nach einem bessern Ziel (...) widrig zu stören?"
In Dido gestaltete Charlotte von Stein ihre Vorstellungen von Menschlichkeit und aufopferungsvoller Liebe. Die Freundschaft zwischen Frauen wird als Alternative zur Unterwerfung der Frau durch den Mann betrachtet. Die schwärmerische, zur Selbstaufgabe bereite Haltung Elissas gegenüber der Königin ist mehr als höfische Ergebenheit. Die vertrauensvolle und zärtliche Beziehung zwischen beiden bleibt aber selbstverständlich im konventionellen Rahmen.
Charlotte von Stein veröffentlichte das Schauspiel nicht, gab es nur einigen Freunden und Freundinnen, darunter Charlotte Schiller. Friedrich Schiller bekam es in die Hände. Er las es, verblüfft und hingerissen. Er setzte sich hin, schrieb einen begeisterten Brief, lobte den "schönen, stillen, sanften Geist" des Werks und vieles, "was im einzelnen vortrefflich gedacht und ausgesprochen" sei. Schiller wollte das Manuskript korrigieren und an einen Verlag vermitteln, doch er drängte vergeblich: die Autorin hielt es als zu persönlich zurück.
In den vorliegenden Biographien wird Dido nicht beachtet: "künstlerisches Mittelmaß" (Maurer), hätte die Tragödie bei einer Aufführung nur "des pikanten Inhalts wegen" interessiert. "Die Karikatur" Goethes sei "so grob, daß Schillers Lob des Stückes kaum zu verstehen" sei, "eine literarische Hinrichtung" (Koopmann).
Charlotte von Stein schrieb auch Komödien, eine wurde zu ihren Lebzeiten veröffentlicht. Ihre von Schiller bestätigte "produktive Kraft" spielt in den Darstellungen die untergeordnetste Rolle. Charlotte Schiller erklärte sie: "Ich kann über unser Geschlecht nicht so bescheiden sein, wie Sie sind. Ich glaube, daß, wenn ebensoviel Frauen Schriftstellerinnen wären, als Männer es sind, und wir nicht durch so tausend Kleinigkeiten in unsrer Haushaltung herabgestimmt würden, man vielleicht auch einige gute darunter finden würde (...)"
Das Ende ihrer Liebesbeziehung mit Goethe hat die zu Depressionen neigende Frau von Stein nie verwunden. Sie bekannte in ihren späten Jahren: "... die Resignationen haben sich bei mir zu oft wiederholt, und ich bin gleichgültiger gegen das Leben oder die Lebenswirtschaft geworden, als ich es selbst wünsche." Ihre auf Pflichterfüllung angelegte protestantische Erziehung und ihr zu Ausbrüchen untaugliches Temperament befähigten sie dazu, sich in das Unvermeidliche zu fügen und anspruchslos weiterzuleben.
Bis ins hohe Alter - sie starb mit 84 Jahren in Weimar - behielt sie ihre Selbstironie. Ihrem Sohn schrieb sie: "Meine Gesundheit ist sehr schlecht; ich hoffe, ich werde im Grabe den Verwesungsprozeß nicht so zu sehen bekommen wie jetzt den Sterbeprozeß, obgleich es für den Physiker interessant sein kann."
Literatur zum Thema:
Helmut Koopmann: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. C. H. Beck-Verlag, München 2002
Doris Maurer: Charlotte von Stein. Eine Biographie. Insel-Verlag, Frankfurt am Main, 1997
Charlotte von Stein: Dido. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Neu herausgegeben von Alexander von Gleichen- Rußwurm, Berlin 1920
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