Die halbe Republik

Türkei 90 Jahre nach ihrer Gründung hat die Türkei es immer noch nicht geschafft, die Republik aller Bürger zu sein.

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Mit dem türkischen Nationalfeiertag am 29. Oktober feierte die Türkei dieses Jahr den 90. Jahrestag ihres Bestehens. Wie jedes Jahr wurde der Tag der Republik mit Feuerwerken an der Bosporusbrücke, den alljährlichen Paraden auf der Vatan Caddesi – inklusive der schon berühmten Fahrt der Müllwagen der städtischen Müllabfuhr als gleichberechtigte Vertreter des türkischen Staates - und den traditionellen Fackelläufen in den eher säkularen Vierteln Kadıköy und Şişli gefeiert. Dieses Jahr kam noch als kleines Bonbon die Eröffnung des interkontinentalen Eisenbahntunnel Mamaray hinzu, welcher den asiatischen und den europäischen Teil der Stadt verbindet.

Dennoch täuscht der öffentliche Stimmung am Nationalfeiertag nicht von der Tatsache, dass 90. Jahre nach der Gründung der Republik, ein Teil der Bürger in der Türkischen Republik immer noch nicht mit ihr im reinen ist. Zwar wird sich heute keiner mehr finden der die Abschaffung der Republik fordert, aber dennoch fehlt die Identifikation einiger Bürger mit der Republik. Diese Enttäuschung drückt sich dann in dem demonstrativen Wegbleiben bei den Feierlichkeiten oder der bewussten Verweigerung die Freude über diesen Tag durch symbolhafte Handlungen zu zeigen. Beispielsweise waren in dem Haus das ich bewohne nur drei von sechs Wohnparteien bereit eine Flagge aus dem Fenster am Nationalfeiertag zu hängen. So ist die Türkische Republik auch neun Jahrzehnte nach ihrer Gründung eine halbe Republik, von der sich nur eine Hälfte sich vertreten sieht, während die andere recht heterogene Hälfte nie zu ihr gefunden hat.

Die Kurden, die seit der Gründung der Republik im Dauerkonflikt mit dem türkischen Staat stehen, haben zwar sich nach Jahrzehnten des bewaffneten Kampfes nun endgültig für den parlamentarischen Weg entschieden. Dennoch müssen sie mit ansehen wie die Regierung sie mit einigen wenigen politischen „Almosen“ abspeist, was noch euphorisch als Demokratiepaket angepriesen wird. Zwar dürfen jetzt zum Beispiel Kurden in ihrer Muttersprache unterricht erhalten, aber nur in teuren Privatschulen. Solche halbherzigen Versuche den kurdischen Konflikt zu lösen durch die Regierung, haben nicht das Vertrauen der Kurden gewinnen können.

Die Aleviten wiederum haben schon seit jeher ein sehr ambivalentes Verhältnis zum türkischen Staat. Auf der einen Seite sind sie zum Teil glühende Verteidiger des kemalistischen Staates, aus Angst einer möglichen wachsenden Islamisierung durch die AKP Regierung. Auf der anderen Seiten sehen aber auch viele Aleviten, das ihre Treue zum Staat nie belohnt wurde und auch nicht wird. Es war der kemalitischer Staat, welcher die Cemevleri, in denen die Aleviten schon seit Jahrhunderten ihren vom sunnitischen Islam abweichenden religiösen Ritus ausübten, per Gesetz schließen ließ, in einem Atemzug mit den Tekkes der anderen sunittischen Orden.. Noch immer sind die Cemevleri offiziell Kulturvereine und genießen nicht denselben rechtlichen Status wie eine Mosche. Es war auch der kemalitische Staat der in alevitische Dörfer Moscheenbauen lies, die außer dem zwangsversetzten Imam niemand benutzte. Es war auch dieser kemalistische Staat der nach dem Militärputsch von 1980 die Aleviten zwang ihre Kinder in den obligatorischen sunnitischen Religionsunterricht zu schicken. Die der AKP versuchte die Aleviten mit halbherzigen Reformversprechen zu vertrösten. Dabei vergaß sie total die Aleviten selbst mal zu konsultieren und versuchte ihnen „Reformen“ aufzudrängen, wie zum Beispiel ihre religiösen Dedes genauso wie die sunnitischen Imame ein staatliches Gehalt zu geben, was aber dem Geist des Alevitentums vollkommen zuwiderlief. Symptomatısch für das aktuelle Verhältnis zwischen AKP und Aleviten ist auch das in dem Demokratiepaket der Regierung im September wurden die Aleviten kaum erwähnt wurden. Dies alles hat die Enttäuschung der Aleviten gegenüber dem Staat und der Regierung nur noch mehr gesteigert. Teile der Aleviten fangen deshalb an ihre schon paradoxe Einstellung und Position gegenüber dem kemalistischen Staat zu hinterfragen.

Schließlich sind da noch die nicht-muslimischen Minderheiten, die schon seit der Gründung der Republik, als angebliche 5. Kolonne eine Pariastellung in der Türkei haben. Traurigerweise haben sie sich schon damit abgefunden von den Behörden als „fremde“ Bürger abgestempelt zu werden. Genauso wie Kurden und Aleviten haben die Nichtmuslime mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen. Zum einen kämpfen die Kirchenvertreter der Armenier, Griechen und Aramäer dafür, dass sie vom Staat wieder ihren alten Stiftungsbesitz zurückbekommen, welcher in den 60ern und 70ern an die öffentliche Hand überging, meist unfreiwillig. Zwar hat die türkische Regierung begonnen einige dieser Besitztümer wieder zurückzugeben. Aber dies geschieht meist auf Druck des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und verläuft auch sehr schleppend voran. Ganz charakteristisch für das Verhältnis zwischen den christlichen Minderheiten und dem türkischen Staat ist der Status des griechisch orthodoxen Priesterseminars in Chalki auf den Prinzeninsel bei Istanbul, welches in den 1970ern im Zuge des Zypernkonflikts mit Griechenland geschlossen wurde. Zwar hat die AKP Regierung schon öfters ihr Interesse bekundet die Situation des Seminars zu verbessern und es zu öffnen. Aber auch hier kann sich die Regierung nicht von dem politischen Diktum der türkischen Außenpolitik lösen, wonach zuerst gefordert wird das zuerst Griechenland den von der griechischen muslimischen Minderheit von Westthrakien anerkennen muss, bevor die Türkei bereit ist den Status von Chalki zu ändert.

Zuletzt sind da noch die Religiösen zu nennen. Zwar hat sich die Situation mit der postislamistischen AKP an der Macht für religiöse Gruppen und Orden verbessert und sie treten vermehrt in der Öffentlichkeit auch. Insbesondere die Situation der Kopftuchträgerin hat sich in den letzten Jahren dramatisch verbessert. Sie dürfen nun mit Kopftuch studieren, in öffentlichen Behörden arbeiten und Abgeordnete mit Kopftuch erscheinen nun auch im türkischen Parlament. Dennoch sitzen die negativen Erfahrungen tief die viele Frauen mit Kopftuch die sie durch den türkischen Staat in der Vergangenheit und die sie auch von vielen Kemalisten erfahren haben. Ein Misstrauen herrscht immer noch, dass diese neu gewonnen Freiheiten wieder zurückgenommen werden können. Dies erlaubt es nicht das sie eine gewisse Sympathie für die kemalistische Republik und die Werte die sie vertreten aufbringen können.

Wem gehört die Türkische Republik? Selbstverständlich sollte die Republik allen Bürgern gehören und es ist zu hoffen, dass eines Tages alle Bürger den 29. Oktober feiern. Aber dies kann nur dann geschehen, wenn der Staat nicht nur die Interessen einer kleinen Minderheit vertritt, sondern auf alle Bevölkerungsteile gleich zugeht und ihre Probleme löst. Dies kann aber nur durch ein umfangreiches Demokratisierungspaket erreicht werden, dass alle Bevölkerungsgruppen in den Prozess einbindet. Nur so kann die halbe Türkische Republik zu einer Ganzen werden. Andernfalls wird auch der türkische Nationalfeiertag am 29. Oktober von einer kleinen Menge gefeiert, die als einzige von den Errungenschaften der Republik profitiert hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Cüneyd Dinc

Lebte und arbeitete als Soziologe in Istanbul. Jetzt arbeitslos in der hessichen Provinz

Cüneyd Dinc

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