Ein Kind des Systems

Politische Kultur Können die aktuellen Ereignisse in der Türkei nur über die Person von Erdoğan erklärt werden? Ein alternativer Erklärungsversuch

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Ein Kind des Systems

Foto: Chris McGrath/Getty Image

Für westliche Leser sind die Verhältnisse in der Türkei meist verworren. Da werden Journalisten verhaftet, weil sie nur ihrer Arbeit gemacht haben, Wissenschaftler und Hochschullehrer entlassen, weil sie den öffentlichen Diskurs mitgestallten wollten und gewählte Politiker einer Partei werden verhaftet. Das Groß der deutschen Medien und der so genannten Türkei Experten wird dann nicht Müde, diese Entwicklung in der Türkei auf die Persönlichkeit eines Mannes zu reduzieren: Staatspräsident Recep Tayip Erdoğan. Unisono lautet dann der Tenor, dass Erdoğan ein Autokrat sei und das Land in eine Autokratie verwandeln möchte.

Ja die Entwicklung in der Türkei sind besorgniserregend – um ein Wort zu benutzen, was derzeit bei deutschen und europäischen Politikern derzeit Konjunktur hat, womit die Türkei das mediale Interesse von Teilen der deutschen Gesellschaft weckt. Natürlich sind Erklärungsversuche, welche die aktuellen Ereignisse in der Türkei nur über die Person des Staatspräsidenten erklären, für Ottonormal Medienkonsumenten gut verdaubare Kost, und befreien ihn davon, komplexe Sachverhalte in sein politisches Koordinatensystem einzuordnen. Insbesondere wenn es um ein Land geht, welches er nur aus dem Urlaub kennt und der einzige Türke den man kennt, der Kebab Verkäufer um die Ecke ist. Dennoch, die Türkei kann nicht nur über die Persönlichkeit Erdoğans erklärt werden. Denn so ein Erklärungsversuch vernachlässigt, dass Erdogan selbst das Kind einer politischen Kultur der Türkei ist. In dieser politischen Kultur stehen der Staat (Devlet auf Türkisch) und dessen Vertreter über der Gesellschaft. Es ist dieser Staat, der für die Gesellschaft entscheidet was für sie gut ist und was nicht. Wie die Zukunft einer Gesellschaft gestaltet werden soll, ist in diesem politischen Denken nicht das Resultat von Verhandlung einzelner gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Akteure im öffentlichen Raum. Dies ist allein die Aufgabe des Staates, der dies im Namen der Gesellschaft für die Gesellschaft tut. Der Ausspruches des kemalistischen Justizministers Esad Bozkurt in den 1940ern ist symptomatisch für dieses Denken: „Wir (der Staat) entscheiden ob der Kommunismus oder der Faschismus für unser Land geeignet ist und führen es dann ein.“ Der Staat bestimmt auch darüber, welche politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte den einzelnen Akteuren der Gesellschaft zugesprochen werden. Der Staat nimmt sie ihnen dann wieder auch weg, wenn er es für opportun hält.

Die Einführung der Demokratie in der Türkei 1950 nicht das Ergebnis einer bürgerlichen Revolution wie im Westen. Sie war auch nicht das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsenses , ausgehandelt nach dem Untergang einer Diktatur, wie in den südeuropäischen Gesellschaften in den 1970ern. Die türkische Demokratie wurde von dem kemalistischen Autokraten Ismet Inönü an die türkische Gesellschaft „gegeben“, weil dieser für sein Land im Kalten Krieg die Mitgliedschaft der NATO anstrebte. Der Übergang der Türkei von einer Einparteienherschaft zu einem Mehrparteiensystem erschien für Inönü und den kemalistischen Eliten im Interesse des Staates und der Gesellschaft deshalb als logischer Schritt. Natürlich entschied sich das Volk, nicht die kemalistische CHP zu wählen, sondern entschied sich für den Mann der Opposition, Adnan Menderes, der dem Volk alle möglichen Versprechen machte. Dabei war Menderes selbst einst Mitglied des liberalen Flügels der CHP gewesen, war dann 1946 aus der Partei ausgetreten, um mit anderen die Demokrat Partisi zu gründen. Beliebt bei dem einfachen Volk, lies es sich dann Menderes nicht nehmen, immer mehr gegen Oppositionelle vorzugehen, Zeitungen zu schließen und Akademiker und Journalisten ins Gefängnis zu werfen. 1960 putschte dann das türkische Militär gegen Menderes, als Hüter des Kemalismus und somit auch des türkischen Staates. Die Demokrat Partisi wurde verboten, Adana Menderes aufgehängt - wodurch er einen Märtyrerstatus bei den Konservativen erlangte - und dem Volk wurde wieder erlaubt ein neues Parlament zu wählen. Da aber das das „unreife“ Volk die ihm gegebenen Rechte nicht im Sinne von „Vater Staat“ nutzte, erschuf der Staat eine Reihe von Institutionen, die als Gegengewicht gegen die vom Volk gewählte Regierung dienen sollte. Das türkische Volk erwies sich dabei als nicht lernfähig und musste dabei noch ein paarmal vom Staat „diszipliniert“ werden, wie die verschiedenen Putsche und Halbputsche in der türkische Geschichte beweisen.

Dabei waren dem Staat immer solche gesellschaftlichen Gruppen ein Dorn im Auge, die den Status Quo in Frage stellten und dabei eigene Forderungen stellten, nämlich Kurde, Linke und Religiöse. Gegen alle diese „unbotmäßigen“ und „aufsässigen Kinder“ ging der türkische Staat rigoros vor, in dem er ihre politischen Parteien verbot und ihre Führer ins Gefängnis steckte. Eine dieser prominenten Figuren, die – wenn auch für kurze Zeit – ins Gefängnis kamen, war Erdoğan.

Als die AKP 2001 an die Macht kam, hatte sich an dem bisherigen System nichts geändert. Erdoğan und seine Partei führten in der ersten Phase ihrer Herrschaft einen zermürbenden Kampf gegen die Vertreter des alten Systems, zusammen in einer Allianz mit Linksliberalen, konservativen Kurden und den Anhängern des Predigers Fetullah Gülen. Insbesondere letztere waren in dieser Zeit eine wichtige Stütze des Machtkampfs der AKP mit der Staat, da sie, ungleich der AKP, gut ausgebildetes Personal hatten, welche leicht Positionen im Staatsapparat und im Militär übernehmen konnte. Der Kampf zwischen AKP Regierung und dem Staatsapparat endete mit dem Sieg der AKP, die 2007 das Präsidentenamt eroberten und nach und nach alle Positionen im Staat mit ihren Leuten besetzten. Die AKP und Erdoğan wurden zum „Staat“ und begannen sich im Streit von den alten Partnern zu trennen.

Auch wenn die AKP ihren Anfängen versprach, die alten Überwachungsinstitutionen des alten Staatsapparates abzuschaffen, hatten sie mit der Eroberung dieser Institutionen ihr Versprechen längst vergessen. So verlor zwar der alte Nationale Sicherheitsrat, in dem die Militärs früheren Regierung schon öfters mit einer militärischen Interventen drohen konnten, wenn die Politik der Regierung ihrer Meinung nach die Interessen des Staates zuwiderlief, seine Bedeutung, weil er nun mit der AKP nahestehenden Militärs besetzt wurde. Institutionen, wie der Rat für Hochschule, welcher die Universitäten nach den Interessen des Staates lenkte, wurden aber kaum von der AKP angefasst und mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet.

Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, das der türkische Staatspräsident, als Vertreter des Staates, nach dem Putsch von 1980 als Gegengewicht gegen die Partikularinteressen der Parteien im Parlament aufgestellt worden. In diesem Sinne, gibt die türkische Verfassung Erdoğan als Staatspräsidenten weitreichende Befugnisse, die er selbst sehr selbstbewusst ausübt. Was Erdoğan selbst will, ist dass das Amt des Staatspräsidenten, welcher seit dem Referendum von 2007 vom Volk gewählt wird, mit noch mehr Befugnissen ausgestattet wird, in Form eines Präsidialsystems. Dabei vertritt Erdogan und die AKP, dass der Präsident vom Volk gewählt wird, und er somit alleine die Interessen des Volkes in ihrem Namen und auch vertritt und auch ausformuliert. Wobei hier mit Volk, nicht die ganze türkische Gesellschaft gemeint ist, sondern die 52% der Wähler die ihn zum Staatspräsidenten gewählt haben. Hier werden die Parallelen zwischen dem Denken der Vertreter des alten kemalistischen Staatsapparates und der AKP deutlich. Beide stellen den Anspruch alleine die Interessen der Gesellschaft zu vertreten. Jeder Wiederspruch durch andere Gruppen, wird als Kritik an dem Staat bzw. an dem Volk betrachtet und darf bekämpft werden. Partikularinteressen müssen sich dem Gemeinwohl unterordnen und dürfen im öffentlichen Raum soweit artikuliert werden, wenn sie dem Gemeinwohl des Volkes nicht wiedersprechen. Verhalten sich einzelne Elemente der Gesellschaft dem Gemeinwohl des Volkes zu Wieder, dürfen der Staat und der ihn verkörpernde Staatspräsident, ihnen ihre Rechte wieder wegnehmen und sie bestrafen. In diesem Sinne können politischen Parteien in der Türkei ganz leicht geschlossen werden, Hochschullehrer verlieren ihren Job, und Zeitungen werden geschlossen, aus dem alleinigen Grund weil sie sich nicht im Sinne des Volkes/ des Staates verhalten haben.

In diesem Sinne sind Analysen von Experten über die aktuellen Verhältnisse in der Türkei, die sich auf nur auf die Person Erdoğan konzentrieren, zum Scheitern verurteilt. Erdoğan und die AKP sind Kinder einer politischen Kultur, denen es gelungen ist, das alte politische System zu erobern. Dass dabei Erdogan sein Charisma ihm geholfen hat den Staat zu erobern, kann man natürlich nicht leugnen. Aber sein politisches Denken ist dabei durch die Existenz des türkischen Staatsapparates geprägt, den es um jeden Preis zu erobern gilt, um die eigenen Interessen umzusetzen.

Das politische Ende von Erdoğan würde zwar für kurze Zeit ein Machtvakuum verursachen, aber die derzeitige Situation in der Türkei in ihrem Kern nicht verändern. Mit der Zeit, würden andere Gruppenversuchen dieses Machtvakuum zu füllen und dann den Staatsapparat für ihre Interessen zu lenken.

Ohne einer Veränderung im politischen Denken, welches die Formulierung von Partikularintressen allgemein legitimiert, dem Aufbau von politisch rechtlichen Institutionen, die den Einzelnen vor dem Staat schützt und dem Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaft als Gegengewicht zum Staat, werden Verhältnisse wie wir sie heute in der Türkei erleben, immer wieder zurückkehren. Dafür bedarf es aber nicht an einem Umdenken bei den türkischen Politikern, sondern auch bei vielen Journalisten und Türkeiexperten, die dieses Problem nicht sehen können und wollen, weil es den heutigen Medienkonsumenten nicht zu vermitteln ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Cüneyd Dinc

Lebte und arbeitete als Soziologe in Istanbul. Jetzt arbeitslos in der hessichen Provinz

Cüneyd Dinc

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