Der Verlierer steht fest

Türkei-Referendum Erdogan hat mit 51% der Ja-Stimmen einen Pyrrhussieg errungen, der seiner Präsidentschaft in Zukunft anhaften dürfte. Aufhalten wird ihn das jedoch nicht

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Hat es auf die türkische Demokratie abgesehen: Recep Tayyip Erdoğan
Hat es auf die türkische Demokratie abgesehen: Recep Tayyip Erdoğan

Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

51,4 %. Genau dies ist der vorläufige Anteil der Wähler in der Türkei und im Ausland, die beim Referendum am 16. April für die Einführung des Präsidialsystems gestimmt haben. Die bereit waren, die Macht des Präsidenten ins Unermessliche zu steigern, das Parlament zu einem Statisten zu degradieren und die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Jurisdiktion weitgehend abzuschaffen.

51,4 % ist das Ergebnis, das Erdogan trotz eines unfairen Wahlkampfes bekommen hat. Ein Wahlkampf, der im Ausnahmezustand stattfand. Ein Wahlkampf, in dem das Ja-Lager medial dauerpräsent war, während das Nein-Lager in den gleichgeschalteten türkischen Medien kaum vorkam. In dem der Staat alle seine Ressourcen verschwendete, um die Opposition in ihrer Arbeit zu behindern, insbesondere in den Kurdengebieten im Südosten. Indem eine Oppositionspolitikerin keinen Saal für ihren Wahlkampf fand, während Erdogan und die AKP-Mitglieder in der ganzen Türkei ihre Wahlkampftouren abhalten konnten.

Es war auch ein Wahlkampf, für den Erdogan vieles in Kauf genommen hat. Die Entfremdung von Europa, die weitere Spaltung der Bevölkerung, die galoppierende Verschlechterung der türkischen Wirtschaft und den Rückzug westlicher Investoren aus dem türkischen Markt. Ein Wahlkampf, in dem es nicht um Inhalte, sondern die Person Erdogan ging, in dem alles zu einer letzten Abwehrschlacht gegen die angeblichen äußeren und inneren Feinde der Türkei hochstilisiert wurde.

Trotzdem haben nur 51 % der Wähler Erdogan die Chance gegeben, alleiniger Herrscher der Türken zu werden. Hochburgen der AKP – wie Istanbul und Ankara – haben mehrheitlich mit Nein gestimmt und ganze Heerscharen konservativer Wähler haben – wie schon bei der Parlamentswahl im Juni 2015 – Erdogan und der AKP die Gefolgschaft gekündigt. Nicht zu vergessen, dass das Ergebnis nur deshalb erzielt wurde, weil es Unmengen an kleinen und großen Unregelmäßigkeiten bei der Wahlauszählung gab, wie die Opposition lautstark verkündete. So hat auch dieses Ergebnis etwas Anrüchiges an sich und man muss sich fragen, ob vielleicht nicht doch das Nein-Lager vorne lag. Auch darf man nicht vergessen, dass genau jeder zweite Türke diese Veränderung des politischen Alltags abgelehnt hat. Als westlicher Demokrat fragt man sich auch, ob eine solche für den Alltag der Menschen signifikante Veränderung des politischen Lebens nicht auf einem großen gesellschaftlichen Konsens beruhen müsste – und nicht auf der bloßen Mehrheit der Stimmen aus den Wahlurnen?

Objektiv gesehen haben genau diese 51,4% einen schalen Beigeschmack. Erdogans Sieg ist ein Pyrrhussieg, der ihm in Zukunft noch viel Kopfzerbrechen bereiten wird. Es wird wohl auch das Ende der Ära Erdogan einläuten, wenn er trotz Machtzuwachs und Alleinherrschaft, nicht in der Lage sein wird, die von ihm versprochene Stabilität und den wirtschaftlichen Aufschwung herzustellen. Müsste Erdogan sich nicht Gedanken über diese 51,4 % machen und ein Umdenken in seiner zukünftigen Politik einleiten, um sich mit seinen politischen Gegnern zu versöhnen?

Das Problem ist nur, dass Erdogan nicht der Logik des politischen Establishments folgt, welches er verachtet. Sein politisches Denken und Handeln – und das vieler seiner Anhänger, die ihn verehren – ist geprägt durch die Straße in den ärmeren konservativen Stadtvierteln, in denen das Recht des Stärkeren gilt. Für Erdogan schaffen Siege Fakten, und die Verlierer sind dem Willen des Siegers unterworfen. Die Vorstellung westlicher Demokratien, dass auch Minderheiten gewisse Rechte haben, ist ihm und seinen Anhängern fremd. Deshalb ist es ihm auch egal, ob er mit 70% oder 51% der Stimmen zu seinem Erfolg gekommen ist. Die Mehrheit – egal wie sie zustande kommt – ist das Volk, das so genannte Millet. In seiner politischen Rhetorik vertritt er genau den Willen dieses Millets, d.h. der Leute, die ihn gewählt haben. In diesem Sinne war die Abstimmung auch die Frage Erdogans an seine Anhänger – und nicht an alle türkischen Wähler –, ob sie ihm mehr Macht geben wollen. Die anderen Wähler sind in den Augen Erdogans niemals das Millet. Im besten Falle sind sie Nörgler oder Querulanten, wie die kemalistische Oppositionspartei CHP. Im schlimmsten Falle sind sie Verräter, die im Auftrag fremder Mächte die Türkei zersetzen wollen, wie Kurden oder Gülenisten. Aus diesem Grund stilisierte Erdogan auch im Wahlkampf das Referendum zu einem Kampf zwischen dem Millet und den inneren und äußeren Feinden des Millet. Wie ein Berater Erdogans sagte: "Nicht alle Nein-Sager sind Terroristen, aber alle Terroristen sagen Nein." Ebenso gibt es in der politischen Mentalität des Straßenkämpfers Erdogan und seiner Anhänger keine langfristigen Ziele, sondern nur kurze Etappen, die es zu gewinnen gilt. In diesem Wahlkampf ging es nur um eins: die Mehrheit des Ja-Lagers und die Präsidentschaft Erdogans. Die Folgekosten – wie die Verschlechterung der Beziehung mit dem Westen oder die Teilung der türkischen Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager – sind irrelevant und werden in Kauf genommen. Hauptsache man hat sein Ziel erreicht.

Das Denken und Handeln von Erdogan ist in eine ganz andere politische Matrix eingebunden und hat nichts mit der politischen Mentalität westlich-demokratischer Politik gemein. Deshalb muss auch die westliche Politik ihre Einstellung gegenüber Erdogan ändern. Insbesondere muss sich die Bundesregierung und Angela Merkel von ihrer Appeasement-Politik verabschieden und entschiedene Worte für Erdogan finden. Ganz wichtig dabei ist, dass auch die EU endlich einsehen muss, dass die Türkei kein Beitrittskandidat mehr ist und die verstockten Beitrittsverhandlungen dementsprechend beenden. Erdogan hatte nie ernsthaft vor, die Türkei in die EU zu bringen und wird es auch nicht mehr tun. Schon in seiner Siegesrede versprach er seinen Anhängern, dass er die Todesstrafe wieder einführe möchte und provozierte so einen Affront. Die EU deutete schon an, dass eine solche Entscheidung das Ende des EU-Beitrittsprozesses einläuten könnte. Somit zeigte er dem Westen, der EU und insbesondere Deutschland, was er von ihnen hält. EU und Bundesregierung müssen sich endlich klar machen, dass Erdogan die bisherige Politik ihm gegenüber als Schwäche ansieht und man auf ihn so keinen Druck ausüben kann – falls man das denn noch machen möchte.

Genauso muss aber auch die türkische Opposition endlich viel energischer gegen Erdogan vorgehen. Das Anfechten der Wahlergebnisse ist zwar „nett“, aber wenn man bedenkt, dass sämtliche Gerichte sowie die Wahlkommission von Erdogan kontrolliert werden: sinnlos. Natürlich hat die Opposition in diesem Wahlkampf eine Herkulesleistung vollbracht. Aber dennoch muss sie sich fragen, was ihre weiteren Ziele und Strategien sind, sollte die Anfechtung der Wahlergebnisse aufgrund möglicher Manipulationen keine Erfolg haben. Das Parlament boykottieren oder die eigenen Anhänger auf die Straße rufen? Derzeit sieht es nicht danach aus, dass es eine einheitliche Strategie der türkischen Opposition gibt. Man will sich wohl eher auf die nächsten Wahlen konzentrieren, in der Hoffnung, 2019 einen gemeinsamen Kandidaten gegen Erdogan aufzustellen und ihn zu besiegen. Was so ein Kandidat gegen das politische Alphatier Erdogan anrichten kann und ob dieser dann auch bereit wäre, das Präsidialsystem abzuschaffen steht auf einem anderen Blatt. Letztlich steht zu befürchten, dass sich die türkische Opposition am langen Ende mit dem neuen System arrangieren wird – was wohl ihr Ende einläuten dürfte. So bleibt die traurige Erkenntnis, dass Erdogan zwar bloß einen Pyrrhussieg errungen hat, diesen aber voll auskosten wird. Der Verlierer des 16. April steht bereits fest: die türkische Demokratie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Cüneyd Dinc

Lebte und arbeitete als Soziologe in Istanbul. Jetzt arbeitslos in der hessichen Provinz

Cüneyd Dinc

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