Liebe Erdogan-Anhänger

Türkei-Referendum Ein offener Brief an alle Deutsch-Türken: Weder Erdogan noch die Türkei sind die Lösung für eure Probleme in Deutschland

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Erdogan-Anhänger in Köln
Erdogan-Anhänger in Köln

Bild: Sascha Steinbach/Getty Images

Lieber Erdogan/AKP-Anhänger in Deutschland, bist du eigentlich stolz darauf, dass Erdogan und die AKP dich als Opfer darstellen? Immer höre ich in den derzeit gleichgeschalteten türkischen Medien, dass wir Deutsch-Türken in Deutschland vom deutschen Staat drangsaliert werden, dass wir Opfer einer Assimilierungspolitik und einer steigenden Islamophobie sind. Noch schlimmer, wir sind sogar unfähig, uns gegen diese angebliche Gefahr zu wehren, so dass wir unbedingt einen starken Mann aus Ankara brauchen, der uns beschützt. Kurz gesagt: In den Augen Ankaras sind wir sowohl Opfer als auch Schwächlinge. Ich weiß nicht, aber mich kränkt das schon ein wenig.

Lieber Freund, liebe Freundin, ich stimme dir zu, dass es in Deutschland eine zunehmende islamophobe Einstellung bei Teilen der Bevölkerung gibt. Ich will auch nicht leugnen, dass manche von uns – wenn auch nicht alle – im Alltag, aufgrund ihres muslimischen (post-)migrantischen Hintergrundes mit Diskriminierung und Rassismus konfrontiert sind. Ja, auch mir macht das bisherige Abschneiden der AfD Sorge. Auch wenn (hoffentlich) der Höhenflug dieser unsäglichen Partei langsam abnimmt. So blind bin ich nicht.

Aber ich suche mein Heil deshalb nicht bei einer Partei und einem Menschen, der sich für uns erst dann interessiert, wenn Wahlkampf ist und er unsere Stimmen braucht, weil es in der Türkei für ihn mal wieder knapp wird. Natürlich gefällt es dir, wenn AKP-Politiker – und insbesondere Erdogan – den Deutschen mal so richtig die Meinung sagen und sich dein deutscher Chef, Lehrer, Kollege, der dich täglich nervt, aufregt. Vielleicht hast du in dem Moment, in dem du in der AKP-Wahlkampfarena sitzt, ein Gefühl der Geborgenheit – etwas, das du vielleicht bei Angela Merkel oder Martin Schulz nicht bekommst. Warum du dieses Gefühl nicht hast, kann ich zum Teil nachvollziehen. Aber seien wir doch ehrlich: Was soll Erdogan oder die Türkei denn anstellen, um deine Alltagsprobleme hier in Deutschland zu lösen? Was kann die Türkei denn gegen Islamophobie in der deutschen Gesellschaft machen? Ein Wirtschaftsembargo gegen die EU verhängen? Die türkische Armee losschicken, gegen die eigenen NATO-Partner?

Ja, ich weiß, die ganzen AKP-nahen Fernsehsender, die du über Satellit tagtäglich konsumierst, präsentieren dir ein Bild von der Türkei ... das es nicht gibt. Nein, die Türkei ist keine regionale Macht. Das Abenteuer in Syrien ist eine einzige Farce. Ohne die Einwilligung der Russen oder der Amerikaner kann die Türkei dort keinen einzigen Schuss abfeuern. Die aktuellen Wirtschaftsdaten zeigen, dass die Türkei in die nächste Wirtschaftskrise hineinschlittern wird. Was glaubst du, wer der Türkei dann wieder aus der Patsche helfen wird? Die Russen, die Saudis, die Chinesen? Nein, natürlich wieder der Westen – den die AKP derzeit aus wahlkampftaktischen Gründen täglich verteufelt, der aber unser wichtigster Handelspartner ist und der am meisten in die Türkei investiert. Du kannst deine Rente darauf verwetten, dass nach dem 16. April, wenn das Referendum zu Ende ist, Erdogan gegen Europa eine ganz andere, sehr viel freundlichere Tonart an den Tag legen wird. Genauso wie er es mit Russland tat, nach neun Monaten russischem Embargo. Nein, die Deutschen sind auch nicht eifersüchtig auf den dritten Flughafen von Istanbul und wollen deshalb schon gar nicht die Türkei schwächen.

Also lieber AKP-Anhänger und liebe AKP-Anhängerin, seid bitte realistisch. Erdogan und die AKP-Minister können dich nicht aus deiner angeblichen Opferrolle retten. Ich glaube auch, dass sie es gar nicht vorhaben. Du bist für sie nur eine Verfügungsmasse, ein politisches Werkzeug, das man benutzt, um ein politisches Ziel zu erreichen. Genauso wie die syrischen Flüchtlinge in der Türkei immer wieder dafür herhalten müssen, dem Westen damit zu drohen, sie gen Europa marschieren zu lassen. Menschenmassen als politische Waffe.

Liebe Erdoganistos, ihr wollt auch definitiv nicht in der Türkei leben. Die kommende Wirtschaftskrise habe ich bereits erwähnt. Schon jetzt ist das Leben in Istanbul, Ankara und Izmir teuer. Es sei denn, du willst in der Provinz leben, was ich kaum glaube. Vertrau mir, ich habe sieben Jahre in dem Land gelebt und kenne es besser als du, der nur in den Sommerferien in die Türkei fliegt. Lebensmittelpreise sind einfach teurer als in Deutschland.

Hast du Kinder, musst du sehr viel Geld für ihre Ausbildung bezahlen. Du glaubst ja gar nicht, was für einen Segen es ist, wenn du für dein Kind einen Kindergartenplatz findest – für den Bruchteil der Kosten, den du in der Türkei ausgeben müsstest. Komme mir bitte jetzt nicht damit, dass es keine Kindergärtenplätze in Deutschland gibt. Das weiß ich selbst. In der Türkei könntest du sie aber er gar nicht bezahlen. Und dann müsstest du sie in die Obhut irgendwelcher unqualifizierten Großmütter geben, die dein Kind einfach vor den Fernseher setzen.

Bist du krank, reicht deine staatliche Krankenversicherung nicht aus, wenn du eine gute medizinische Behandlung haben möchtest. Die bekommst du aber nur in einem privaten Krankenhaus. Du möchtest definitiv nicht in ein staatliches Krankenhaus gehen. Aber dann kannst du sicher sein, dass du jedes Mal neben der Behandlung, zusätzlich für jeden Bluttest – der immer gemacht wird – zahlen musst.

Wenn du noch glaubst, dass du in der Türkei keine Diskriminierung wegen deiner Herkunft erfahren wirst, muss ich dich leider enttäuschen. Viele Türkei-Türken haben einen Hang zum Sprachfetischismus und werden nicht müde, dich wegen deiner falschen Ausdrucksweise zu kritisieren und zu verbessern. Viele Türkei-Türken haben auch Komplexe gegenüber uns Deutsch-Türken, womöglich wegen unserer zum Teil besseren beruflichen Ausbildung in Deutschland. Sie werden dir das, wo sie können, reinwürgen und dir jeden Fehler, den du machst, doppelt unter die Nase reiben. Du wirst immer der „Deutsche“ sein – niemals einer von ihnen. Egal, wie sehr du die Türkei liebst oder noch so ein glühender Erdogan-Anhänger bist. Dostum, du siehst, weder Erdogan, die AKP, noch die Auswanderung in die Türkei sind eine Lösung für deine Probleme und Sorgen hier in Deutschland.

Liebe Freunde, ich will nicht, dass ihr einfach Deutschland verlasst, nur weil ihr euch hier nicht wohl fühlt. So eine Aussage ist in meinen Augen nicht besser als die Sprache, die die AfD und die ganzen anderen alten und neuen Rechten in Deutschland benutzen. Wo willst du denn auch hin? Und wieso denn auch? Du bist in diesem Land geboren und Teil dieses Landes. Was du nun machen musst, ist den nächsten Schritt zu gehen und dir bewusst zu machen, dass nur du gegen deine Probleme in diesem Land ankämpfen kannst. Nur du bist in der Lage, der deutschen Gesellschaft und Politik deutlich zu machen, dass wir Deutsch-Türken Realität in diesem Land sind. Erdogan & Co. wollen dir weismachen, dass du ein Opfer bist und dass nur sie dir helfen können. Aber das ist nicht wahr. Du bist kein Opfer. Du bist Teil Deutschlands. Deshalb verhalte dich auch nicht wie ein Opfer und sei Teil dieser Gesellschaft. Versuche, die Gemeinschaft, in der du lebst, mitzugestalten. Geh in Parteien, NGOs, gründe eigene Organisationen. Erhebe deine Stimme gegen Alltagsdiskriminierung, Rassismus und Islamophobie. Für dich und alle anderen, die Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung sind. Aber mach etwas. Niemand wird dir helfen, wenn du nicht dagegen angehst. Hoffe nicht auf Hilfe aus Ankara. Lass uns unsere gegensätzlichen Positionen hinsichtlich der Türkei, Erdogan, der AKP, usw. beiseitelegen und gemeinsam dieses Land, in dem wir geboren sind, mitgestalten. Denn nach dem 16. April müssen wir wieder miteinander in Deutschland zusammenleben. Öffne deine Augen!

In diesem Sinne wünsche ich euch einen schönen Tag,

Cüneyd Dinc

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Cüneyd Dinc

Lebte und arbeitete als Soziologe in Istanbul. Jetzt arbeitslos in der hessichen Provinz

Cüneyd Dinc

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden