Quo vadis Istanbul?

Umwelt Istanbul wächst und wächst. Aber zu welchem Preis?

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Eine Frau versucht im Stadtteil Kağıthane Polizeikräfte von der Räumung einer Siedlung abzuhalten (Istanbul, 2005)
Eine Frau versucht im Stadtteil Kağıthane Polizeikräfte von der Räumung einer Siedlung abzuhalten (Istanbul, 2005)

Foto: MUSTAFA OZER/ AFP/ Getty Images

Besucht man Istanbul mit dem Überlandbus beträgt an normalen Tagen die Wartezeit der Busse im Busbahnhof Esenler zehn bis fünfzehn Minuten. Nicht aber vorletzte Woche, am Ende des islamischen Opferfestes, wo viele Istanbuler die Feiertage nutzten, um ihre Verwandten außerhalb von Istanbul zu besuchen. Wer mit dem Bus nach Istanbul zurückzukehren wollte, musste nicht nur erst einmal eine mehrstündige Rückfahrt in Kauf nehmen, sondern auch noch ca. 3 Stunden warten, bis die Busse ihren Platz am Busbahnhof anfahren konnten.

Nun kann man argumentieren, dass bei solchen Stoßzeiten, in denen Millionen von Istanbulern auf einmal versuchen nach Istanbul zurückzukehren solch ein Verkehrs-GAU absehbar ist. Dennoch verdeckt dies die eigentlichen Probleme Istanbuls nicht; das rapide Wachstum der Stadt und die mangelhafte Infrastruktur, welche mit diesem Wachstumstempo nicht mithalten kann. Zwar versucht die Regierung mit neuen Megaprojekten, wie den jetzt eröffneten interkontinentalen Marmaray Tunnel oder dem Ausbau des Metronetzes zumindest mit dem Verkehrsproblem klarzukommen. Aber auf der anderen Seite forcieren Regierung und Munizipalverwaltung das immerwährende Wachstum der Stadt.

Istanbul wie auch der Rest der Türkei erlebt seit Jahren einen Bauboom, der schon längst sich zu einer Goldgrube entwickelt hat. So ist schon jetzt die Baubranche neben dem Textilsektor der andere Wachstumsmotor des Wirtschaftswachstums in der Türkei geworden. Istanbul baut und baut, und da es kein Bauland mehr im alten Stadtkern gibt, wird auswärts gebaut. Dafür ändert die Stadtverwaltung meistens Baunutzungspläne, um neues Bauland zu gewinnen. Schon jetzt besteht Istanbul aus Gürtel von Neubausiedlungen für die neue obere Mittelschicht, die ca. 40 - 80 km vom Stadtzentrum entfernt liegen. Beispielsweise soll bis 2017 neben dem neuen Großflughafen im Norden von Istanbul Kayasehir als neue Wohn- und Arbeitssiedlung für 1 Millionen Menschen umgebaut werden, inklusive mit Metro- und Autobahnanbindung.

Natürlich wecken die neuen Baupläne der Stadt neue Begehrlichkeiten. Ackerland wird durch einen Wechsel im Bebauungsplan zu Bauland und somit auch zehnmal wertvoller. Oder ehemalige stillgelegte Fabrikgelände, die günstig an der Stadtautobahn gelegen sind, werden im Rahmen von Privatisierungsaktionen von der öffentlichen Hand als neues Bauland verkauft. Gekauft werden diese Objekte dann meist von Bauunternehmern, die sich aufgrund ihrer guten Beziehungen zur Politik die Filetstücke solcher Aktionen sichern können. Neben privaten Akteuren mischt auch das staatliche Bauunternehmen TOKI mit, welches neben Wohnraum für Arme auch Siedlungen für die die obere Mittelschicht baut. Unterstützt wird der Bauboom von den Banken die den Kaufinteressierten günstige Baukredite vergeben.

So entwickelt sich auf dem ersten Blick eine Win-Win-Situation für alle. Der Staat, der sich auf neue Steuereinnahmen und stetigen Wirtschaftswachstum freut, Bauunternehmen die immer reicher werden und schließlich die wachsenden Mittelschicht, die ihren neuen Wohlstand mit einer eigenen Wohnung zur Schau stellen können.

Doch wie bei König Midas ist auch dieser Goldsegen verflucht. Denn die Win-Win-Situation für den Staat, die Baubranche und die Mittelschicht geschieht auf Kosten der Umwelt, des Allgemeinwohls und der Armen. Schon jetzt bedeuten die aberwitzigen Bauprojekte der Regierung, wie die neue Stadtautobahn, dass 100.000 Bäume im Norden abgeholzt werden und Istanbul so seine Grüne Lunge verliert. Auf der anderen Seite hat der Bauboom auch tiefe Einwirkungen auf das ökologische Gleichgewicht der Stadt. Letzten Monat wurden Bewohner Istanbuls Zeugen, wie eine Gruppe von Wildschweinen versuchte von der europäischen auf die asiatische Seite zu schwimmen und dabei in den Strömungen des Bosporus verelendete. Der Grund dafür war, dass bei Bauarbeiten der Wohnraum der Tiere zerstört wurde. Sie gerieten zusätzlich durch den Lärm in Stress und begaben sich auf die Suche nach neuem Wohnraum, welcher dann tragisch endete.

Auf der anderen Seite geht der Bauboom der Stadt auf Kosten des Allgemeinwohls. Grünflächen und Parks in der Stadt werden von der Stadtverwaltung als ungenutztes Bauland bewertet, das man doch gut für den Bau von Einkaufzentren benutzen kann. Zwar hat die Stadtverwaltung seit den Gezi-Demonstrationen im Sommer dieses Jahres von solchen Plänen vorerst Abstand genommen und lässt sogar neue Parks wie den neben der Wettrennbahn im Zeytinburnu bauen. Aber dennoch – aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Vielmehr hütet sich die Stadt nur zur Zeit, Parks in Ruhe zulassen. So ist zum Beispiel geplant, die erst kürzlich restaurierte Fährenanlegestelle in Beşiktaş einem letztes Jahr fertig gestellten 5-Sterne-Hotel zwecks Eigengebrauchs zu übergeben. Die Fähren sollen dann an wo anders in Beşiktaş anlegen. Schon jetzt scheint es, als ob der nächste Konflikt in der Stadt zwischen Demonstranten und der Staatsmacht vorprogrammiert ist.

Schließlich sind es auch die Armen, die den Preis für das Wachstum Istanbuls zahlen. Viele von ihnen müssen zugunsten von neuen Prestige-Projekten ihren Wohnraum mehr oder wenig freiwillig verlassen. So wurden schon die Roma in Sulekule und die Migranten am Tarlabaşı Bulvar bei Taksim in extra für sie von der TOKI bereitgestellte Siedlungen umgesiedelt. Diese Siedlungen sind meist so weit von den Arbeitsplätzen dieser Menschen entfernt, dass diese Menschen nicht nur ihren Wohnraum, sondern auch ihre Arbeit als zum Beispiel Blumenverkäufer, Kellner, usw. im Stadtzentrum verlieren. Gleichzeitig steigt merkwürdigerweise die Kriminalität in den Stadtteilen, in denen die Armen ihre Häuser haben, und auf welche Bauunternehmer aufgrund der guten Lage ein Auge geworfen haben. So hat es in den letzten Monaten im alten Arbeiterviertel Gülsuyu, von dessen Höhen man einen atemberaubenden Ausblick auf das Marmarameer hat, Schießereien zwischen Drogenverkäufern und Anwohnern gegeben, was von den Medien anfänglich als politischer Konflikt zwischen Ultrarechten und linken Gruppen getarnt wurde. Schon jetzt klagen die Anwohner in Vierteln wie Gülsuyu oder Gazi nicht nur über die steigende Kleinkriminalität sondern auch darüber, dass immer mehr Leuten in Maßanzügen auftauchen alte Häuser aufkaufen.

Aber nicht nur die ganz Armen müssen sich manchmal mit den Immobilienspekulanten rumschlagen. Ein Freund von mir, der in der letzten grünen Oase der Stadt Polenezköy lebt und etwas vermögend ist, berichtete, dass auch er neulich Männer im Anzug in seiner Nachbarschaft sah, die anfingen sich Grundstücke anzusehen und sich Notizen zu machen.

Istanbul und die türkische Bau- und Immobilienbranche erlebt derzeit einen Goldrausch. Aber jeder Rausch hat ein Ende. Dieser wird wohl dann auftreten, wenn die Nachfrage nach Wohn- und Büroräumen nachlasen wird. Zwar vergeben türkische Banken keine faulen Baukredite, so dass wir vorerst eine Subprime-Krise wie in den USA ausschließen können. Aber schon jetzt wird deutlich, dass nicht jeder Neubau, nicht jede Bürofläche automatisch einen Käufer findet, wie in den Jahren zuvor. Zum Beispiel stehen die vielen Bürohochhäuser, die um das neue Justizzentrum auf der asiatischen Seite für Anwälte gebaut wurden, schon seit einem Jahr leer. Kleine Bauunternehmer, die alte Häuser abreißen und dafür neue fünf- bis sechsstöckige Häuser bauen, müssen damit rechnen, dass sie nicht sofort ihre Wohnungen loswerden, sondern wie jetzt schon die meisten ein Jahr warten müssen. Meist klaffen die Preisvorstellungen der Bauunternehmer und die Kaufkraft der Käufer weit auseinander.

Quo vadis Istanbul, möchte man schon fragen, wenn man sich diesen Komplex aus Bauwahn, Umwelt und sozialem Konflikt, der Istanbuls Leben heute bestimmt, betrachtet. Das die Bauwut der Baubarone ein Ende haben wird ist jetzt schon abzusehen. Die Frage ist, wie die Stadt aussehen wird, wenn der Rausch des immer schnellen Bauens vorbei ist und welchen Preis die Stadt und ihre Anwohner dafür bezahlen werden. Hoffen wir, dass es kein böses Erwachen geben wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Cüneyd Dinc

Lebte und arbeitete als Soziologe in Istanbul. Jetzt arbeitslos in der hessichen Provinz

Cüneyd Dinc

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