Herr Zwick, haben wir nach Ihrer Einschätzung zu viele dicke Kinder?
Wir müssen uns zunächst fragen, wer wird denn eigentlich für zu dick erklärt? Zumeist wird mit dem Body Mass Index (BMI) gearbeitet, der seinerzeit von der Industrie eingeführt wurde. Er ist nicht wissenschaftlich begründet. Übergewichtig zu sein heißt nicht zwangsläufig krank zu sein, auch nicht im fortgeschrittenen Alter. Alle Kinder, die wir interviewt haben, waren körperlich gesund – und zwar gleichgültig wie übergewichtig sie waren. Auf der anderen Seite leiden dicke Kinder sehr unter Hänseleien. Bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen scheinen vor allem die sozialen Nachteile eine Rolle zu spielen, weniger die gesundheitlichen Folgen.
Es kursieren Zahlen, nach denen jedes dritte Kind übergewichtig sei...
Es gibt keine wirklich repräsentativen Daten über dicke Kinder. Die Schuleingangsuntersuchungen sind zwar eine Möglichkeit, das zu messen, aber es stellt sich dabei die Frage, welcher Maßstab angelegt wird - einfach Körpergröße und Gewicht wie beim BMI sagt wenig aus. Für mich wäre beispielsweise ein physiologischer Parameter valide, der zeigen würde, diese Kinder sind häufiger krank, haben häufiger Stoffwechselerkrankungen – so wird aber bislang nicht vorgegangen. Abgesehen davon rechnet die Interationale Obesity Task Force (IOTF) bei deutschen Kindern und Jugendlichen mit 3 Prozent Adipösen und – je nach Alter – mit 8 Prozent 0bis 13 Prozent Übergewichtigen. Alles andere ist Spekulation.
Haben wir dann Ihrer Ansicht nach überhaupt ein Problem mit Übergewicht bei Kindern?
Im Einzelfall ganz sicherlich und zwar vor allem dann, wenn die betroffenen Kinder und Jugendlichen selber darunter leiden. Aus der gesellschaftlichen Perspektive sieht das aber ein wenig anders aus. Es gibt nicht wenige Institutionen, die ein Interesse darin sehen, wenn sich ein gesellschaftliches Phänomen – beispielsweise dicke Kinder – zu einem ernsthaften Problem und einem dramatischen Risiko auswächst. So wird immer wieder die Adipositasepidemie beschworen. Sie ist aber weder ansteckend noch breitet sie sich rasant aus – in einigen Regionen Deutschlands lässt sich Stagnation beobachten. Nach meinen Erfahrungen sehen viele Interessengruppen – die Krankenkassen und -versicherer einmal ausgenommen –, in der Adipositas eher einen Nutzen als einen Schaden: Die Nahrungsmittelindustrie, die Pharmabranche, die Ärzte und Kurkliniken, die übergewichtige Kinder behandeln, aber auch die Wissenschaft. Lässt sich ein sozialer Sachverhalt als ein „Problem“ etablieren, dann setzt das eine Umverteilung von Mitteln in Gang. Und genau das ist bei der Adipositas geschehen. Verdient wird an ihrer Entstehung, ihrer Erforschung, ihrer Diagnose und ihrer Therapie.
Aber es gibt doch gesundheitliche Risiken von Übergewicht, die das Gesundheitssystem belasten?
Eine solche Sicht ist natürlich einseitig. Wenn es beispielsweise stimmt, was gerne behauptet wird, dass Adipöse eine geringere Lebenserwartung haben, spräche das eher für eine Entlastung des Rentensystems – wenn man will, könnte man also sofort ein Gegenargument finden, auch wenn es etwas zynisch klingt. Andererseits gibt es immer mehr Marktnischen, die die Dicken als ihre Zielgruppe entdecken: Reiseanbieter spezialisieren sich auf besonders Dicke, die Bekleidungsindustrie, Hersteller von medizinischen Heilapparaten oder irgendwelchen Apparaten oder Substanzen, die einen Gewichtsverlust versprechen. – die Deutschen lassen sich den Verlust eines Kilos Körpergewichts über 300 Euro kosten, wurde unlängst ausgerechnet. Renate Künast hat 2004 gesagt, durch Fehlernährung und Übergewicht entstehe ein jährlicher Schaden von rund 71 Milliarden Euro in Deutschland. Auch wenn seriöse Schätzungen allenfalls von einen einstelligen Milliardenbetrag sprechen, steht diesen Kosten ein gleich hoher Nutzen entgegen: Das Geld ist das Einkommen von abertausenden von Menschen, die von der Bearbeitung des Adipositas-Phänomens leben. Eine einseitige Schadenssemantik ist völlig fehl am Platze. Ich halte daher nichts davon, die gesamte Öffentlichkeit und die Kinder ununterbrochen zu kontrollieren, zu gängeln und zu bearbeiten, vielmehr sollte man für jene niedrigschwellige Hilfsangebote bereitstellen, die Leidensdruck haben.
Wie hilft man den Kindern, die unter Ausgrenzung leiden?
Kuren sind zwar meist sehr wirksam, aber die Kinder kommen in der Regel in einen Alltag und in ein „adipogenes“ Umfeld zurück, das es den Betroffenen schwer macht, ihr Gewicht zu halten. Dicke Kinder leben meist in einem eher deprivilegierten gesellschaftlichen Umfeld, das die Entstehung von Übergewicht oder Fettleibigkeit begünstigt. Das betrifft weniger das Einkommen, sondern Bildung bzw. Kompetenzen im Umgang mit Medien, beim Ernährungs- und Freizeitverhalten und in zweiter Linie soziale Unterstützung. Häufig sieht die Realität dicker Kinder nämlich ernüchternd aus: Manche Familien unternehmen nicht viel mit ihren Kindern und pflegen einen hohen Medienkonsum. Aber auch bei der Ernährung liegt vieles im Argen: Fastfood, Snacking, fett- und zuckerreiche Speisen und Getränke stehen in der Gunst häufig ganz oben. In unserer Überflussgesellschaft müssen die Menschen kompetent, regelgeleitet und selbstdiszipliniert die richtige Auswahl treffen, wollen sie ihr Gewicht halten. Es darf aber nicht darum gehen, den Einzelnen zu gängeln. Wir brauchen vielmehr Prävention, die die Rahmenbedingungen verändert, die richtige Anreize setzt, aber auch ordnungspolitische Maßnahmen, wie zum Beispiel eine eindeutige und einfache Kennzeichnung von Lebensmitteln nach dem Ampelsystem, das sich in Großbritannien bewährt hat. Man könnte im Städtebau auf ein neues Leitbild setzen: mensch- und bewegungs- statt auto- und verkehrsgerecht. Die bedarfsgerechte Schaffung von frei zugänglichen Sport- und Spielstätten. Dem Schulsport eine höhere Priorität einräumen, dafür aber die Benotung fallen lassen, da haben die Adipösen nämlich immer Nachteile. Es gibt viele Möglichkeiten.
Es gibt ja bereits etliche Kampagnen, die von der Bundesregierung gefördert werden.
Das ist zwar richtig, aber all dies hat keinen Sinn, solange es keine wissenschaftliche Evaluation gibt. Nur so kann man einen evidenzbasierten Katalog mit wirklich wirksamen Maßnahmen erstellen. Außerdem müssten die vielen Einzelprojekte unbedingt koordiniert werden. Allein in Baden-Württemberg haben wir derzeit über 200 Initiativen, Kampagnen und Projekte, die so gut wie nicht miteinander verzahnt sind. Es finden keine Synergieeffekte statt. Hier müssen Strukturen geschaffen werden. Aber bei der Bundesregierung hat man nicht wirklich den Eindruck, dass das Problem ernsthaft bekämpft werden soll. Ich hätte eher das Vertrauen in die EU, dass von dort die entscheidenden Impulse kommen.
Das Gespräch führte Connie Uschtrin.
Michael M. Zwick ist Soziologe an der Universität Stuttgart.
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