Nach dem Willen von Präsident Islam Karimow sollte das Jahr 2004 in Usbekistan offiziell das "Jahr der Liebenswürdigkeit und des Erbarmens" sein. Diese Prophezeiung wird kaum eintreten. Nach der Serie von Bombenanschlägen in den vergangenen Wochen ist eher ein "Jahr der Repression" zu erwarten. Der Staatschef will hart durchgreifen gegen die Attentäter. Wie nicht anders zu erwarten, sieht er die Urheber in vom Ausland gesteuerten Terror-Gruppen, die seine strategische Allianz mit den USA erschüttern wollten.
Diese Version geht meilenweit an allen Erkenntnissen und Erfahrungen vorbei, die nicht offiziellen Mündern entstammen. Das usbekische Volk - 25 Millionen Menschen - lebt in materieller und geistiger Armut: Jugendliche haben keine Arbeit und keine Zukunft, Frauen müssen sich aus wirtschaftlicher Not mit der Vielehe abfinden, Tausende sitzen nach Angaben internationaler Menschenrechtsorganisationen im Gefängnis, weil sie mutmaßlich der verbotenen islamistischen Partei Hizb ut-Tahrir angehören, die alle postsowjetischen Regimes Zentralasiens stürzen will, um ein Kalifat zu errichten. Hizb ut-Tahrir hat sich allerdings bereits von den Attentaten in Taschkent distanziert und erklärt, was schon vorher alle wussten: Wir lehnen Gewalt als Mittel unserer Politik ab. Insofern desorientiert Präsident Karimow die internationale öffentliche Meinung, wenn er von einem "globalen Terrorismus" à la al-Qaida redet, der nun auch Usbekistan erreicht habe, um so die Unterstützung der "westlichen Staatengemeinschaft", allen voran der USA, nicht zu verlieren.
"99 Prozent der Leute unterstützen die Terroristen", meint forsch ein Taxifahrer in Taschkent, "weil wir mit dem Rücken zur Wand stehen: keine Arbeit, kein Geld, du kannst keinen Schritt tun, ohne dich auszuweisen. Die Attentäter haben sich geopfert, um das Volk auf die Barrikaden zu bringen."
Wie blanker Hohn müssen da angesichts der aufgestauten Wut der Bevölkerung die Erklärungen der Regierung klingen, dass al-Qaida oder Hizb ut-Tahrir ihre Finger mit im Spiel hätten bei den Anschlägen.
Schon die Umstände sprechen gegen diese Theorie: Selbstmordattentate durch Frauen. Das hat es zuvor in Zentralasien nie gegeben. Was die einen als neue Qualität des Terrorismus deuten, könnte in Wirklichkeit ein Zeichen für die totale Hilflosigkeit vieler Usbeken sein, für die vor allem die Miliz ein rotes Tuch ist: korrupt, gewalttätig und willkürlich. Es waren gerade in jüngster Vergangenheit immer wieder Frauen auf dem Taschkenter Zentralmarkt Tschorsu, die gegen die Verhaftung ihrer Ehemänner demonstrierten.
Auch aus dem Fergana-Tal wird berichtet, dass die Bevölkerung mit ihrer Geduld am Ende sei. Die sozialen Spannungen hätten ein Niveau erreicht, das jederzeit in eine offene Revolte münden könne. An die für Dezember geplanten Parlamentswahlen glaube ohnehin niemand mehr. In dieser Lage dürfte es auch die Islamische Bewegung Usbekistans (Islamic Movement of Uzbekistan/IMU) leicht haben, sich an die Spitze des Widerstands im Fergana-Tal zu setzen - sollte ihre Infrastruktur dies noch erlauben, denn bei den Bombardements der US-Amerikaner gegen die Taleban in Afghanistan wurden viele Basen der IMU zerstört und ihr charismatischer Anführer Dschuma Namangani getötet. Zweifellos wird die Hizb ut-Tahrir die aufgewühlte Stimmung für sich zu nutzen wissen, zumal jede säkulare Opposition verboten ist.
Offen bleibt vorerst, wie sich die USA verhalten. Auf jeden Fall dürfte das Militärbündnis mit dem usbekischen Regime nicht zur Disposition stehen. Verteidigungsminister Rumsfeld lobte erst im Februar Islam Karimow während eines Aufenthalts in Taschkent für eine "wundervolle Zusammenarbeit". Schließlich will man in Zentralasien bleiben, um den russischen und chinesischen Einfluss in der Region auszutrocknen. Der usbekische Truppenstützpunkt Khanabad ist heute ein wichtiger Nachschubposten des US-Militärs für seine Afghanistan-Operationen.
Es war aufschlussreich, dass unmittelbar nach der Rumsfeld-Visite das US-Außenministerium einen Menschenrechtsbericht veröffentlichte, in dem Usbekistan als "autoritärer Staat mit begrenzten Bürgerrechten und einer Reihe von ernsthaften Menschenrechtsverletzungen" bezeichnet wird: Folter, willkürliche Verhaftungen, eingeschränkte Meinungsfreiheit. Ob Donald Rumsfeld und Colin Powell dabei wirklich voneinander abweichenden Intentionen folgen - hier die globale Hegemonie, der sich alles unterordnet, dort das globale Vorbild für Menschenrechte und Demokratie, an dem sich alle aufrichten - erscheint eher fraglich. Der Report dürfte Karimow eher bedeuten, dass er jederzeit in die Spielklasse Saddam Co. abrutschen kann, wenn er seinen Staat nicht zusammenhält und es versäumt, den Amerikanern das Hinterland zu bieten, das sie für ihre Afghanistan-Feldzüge brauchen.
Dabei schien in den vergangenen Monaten die Abstinenz des usbekischen Staates gegenüber Menschenrechtsfragen nicht mehr so zementiert wie bisher. So durften Vertreter europäischer Botschaften die Gefängnisse besuchen. An einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Oktober in Samarkand ("Staat und Religion in Ländern mit muslimischer Bevölkerung") nahmen gar Vertreter des usbekischen Innen- und Justizministeriums, der Generalstaatsanwaltschaft und des Sicherheitsdienstes teil. Ein großer Erfolg, sind es doch gerade diese Behörden, die mutmaßliche "Islamisten" jagen und ausschalten. Die FES wollte, dass die Islamistenfänger direkt von Experten aus Ägypten, Algerien, Iran und der Türkei erfahren, wie sich das Verhältnis zwischen Religion und Staat in anderen islamischen Ländern darstellt, und man auch anders mit islamistischen Oppositionsgruppen umgehen könne.
Die minimalen Konzessionen sind nach den Attentaten wieder gefährdet. Die Gefahr von Rückschritten besteht jedoch nicht nur in Usbekistan. Just zum Zeitpunkt der Anschläge dort verurteilte ein kasachisches Gericht in der Stadt Schymkent vier mutmaßliche Hizb ut-Tahrir-Mitglieder zu Gefängnisstrafen. Kein gutes Zeichen für einen Dialog mit der Opposition - ob islamisch oder nicht.
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