Die Pragmatische Generation hat ausgedient

Zeitenwende Wir stehen vor epochalen Veränderungen, die Orientierung und Haltung brauchen. Die Vertreter der Reinen Pragmatik können dies nicht bieten

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zu wenig Micky Mäuse, zu viele Kater Carlos
Zu wenig Micky Mäuse, zu viele Kater Carlos

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

Ein Grauschleier hat sich über den politischen Betrieb gelegt, und er hebt sich wenn, dann nur sehr langsam. Farben sind verblasst, Konturen sind verschwommen, nur durchbrochen durch schrille blau-braune Einschläge.

Es ist dies der Sound der aktuellen Parteienlandschaft, angeführt von CDU und SPD.

Geradezu stürmisch mutet im Vergleich zum heutigen politischen Betrieb die Phase der ersten rot-grünen Regierung an, die angetreten war, um teils tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen vorzunehmen und deren Akteure nicht müde wurden, die "historische" Dimension ihres Handelns hervorzuheben. Und überhaupt kein Vergleich dazu sind die Jahrzehnte davor, in denen ideologische Blöcke immer wieder, gleichsam unversöhnlich, aufeinanderprallten, bis einer davon den anderen überlebte und dann dazu ansetzte, sich selbst zu überhitzen und wahrscheinlich bald totzulaufen.

Vielleicht unter dem Eindruck dieser Erfahrungen bildete sich schon vor Kanzler Schröders Zeiten eine Generation von Politikern heraus, die mal als moderierend, mal als unaufgeregt oder pragmatisch beschrieben wurde. Zunächst positiv klingende Attribute. Mit einer "pragmatischen", maximal einer neoliberalen Weltsicht ausgestattet, sonst aber unideologisch und gerne auf Sicht fahrend, war von ihnen nichts Überraschendes zu erwarten. Aber neben den negativen Effekten neoliberaler Politik stellt sich zunehmend heraus, dass auch diese Lehre des Reinen Pragmatismus Lücken aufreißt, die nur schwer zu schließen sind.

Es sei hier klargestellt: Es geht nicht um den Alltagspragmatismus, der kurze Wege ermöglicht, eine Regelung auch mal im Sinne einer guten Sache auslegt oder einfach mal fünfe gerade sein lässt. Es geht um eine Ideologie der Ideologiefreiheit, eben jenes Auf-Sicht-Fahrens, aus der Angst heraus, etwas an die Wand fahren zu können. Dem drohenden Eisberg kann man so aber nicht rechtzeitig ausweichen. Und auf die Frage der eigenen Gefolgschaft, wohin die Reise geht, kann so niemand eine Antwort geben.

Man könnte meinen, dass die derzeitigen Beobachtungen und Erfahrungen die Erkenntnis nähren würden, dass wir vor epochalen sozialen und ökologischen Aufgaben stehen. Dass wir in der Gesellschaft eine Neuorientierung brauchen, überhaupt eine Orientierung, um diesen Aufgaben zu begegnen und den noch auszuhandelnden, hoffentlich bestmöglichen Weg einzuschlagen. Aber Fehlanzeige. Es wird eher noch schlimmer: Während aus dem Dunstkreis der Union heraus immer wieder Anklänge von "besorgtem Bürgertum" zu hören sind, flüchtet sich die SPD gerne in einen selbstverordneten (Schein-)Realismus - eine Ersatzideologie für den Reinen Pragmatismus, die nur noch fragt "Was können wir überhaupt noch bewirken?". Das hat allerdings nichts mit einem echten Realismus zu tun, der die Größe der bevorstehenden Herausforderungen anerkennt.

Dabei wäre gerade in diesen Zeiten ein neuer Aufbruch nötig, um dem Untergangs- und Umsturzgeschwätz von rechtsaußen etwas entgegenzusetzen. Die dafür notwendige visionäre Kraft ist auf unserer deutschen politischen Bühne bisher aber nicht zu erkennen. Es wird Zeit für einen Sinneswandel bei den Pragmatikern. Oder für eine neue, visionäre Generation.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Oliver Czulo

Sozial-ökologisch-progressiv. Privat gelegentlich ein unverbesserlicher Optimist.

Oliver Czulo

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden