Liebe Tante SPD

Zukunft Warum die Sozialdemokratie endlich wieder mehr Utopie wagen sollte, und was es heute heißt, utopisch zu denken. Ein persönlicher Brief an eine alte Weggefährtin

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wenn man es einfach mal wagt, den Gedanken und Ideen freien Lauf zu lassen, dann geht es hoch hinaus
Wenn man es einfach mal wagt, den Gedanken und Ideen freien Lauf zu lassen, dann geht es hoch hinaus

Foto: Omer Messinger/Getty Images

Absender: Oliver Czulo
Empfängerin: Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Saarbrücken, Mainz und Leipzig im Sommer 2018

Betreff: Hallöchen! (Unsere Zukunft)

Liebe Tante SPD,

es kommt mir fast ungewohnt vor, dir wieder zu schreiben: Du hast länger nichts von mir gehört. Unsere Wege, so schien es für eine Weile, waren dabei, sich zu trennen. War ich als junger Mensch einst mit Begeisterung unserer großen Wahlfamilie beigetreten und habe so einige Lichtblicke erlebt, so waren die letzten Jahre nicht immer einfach für mich. Viele Enttäuschungen musste ich erleben, die viele andere mit mir teilten und beklagten. Ich fragte mich: Was waren unsere Ziele, unsere Ideale? War uns die Gemeinschaft unwichtig geworden, waren wir nur noch dem Gewinnstreben Einzelner verpflichtet? Was war unser Bild von der Zukunft für uns, für alle, unser gemeinsamer Weg? Was war unsere innere Haltung, gerade in stürmischen Zeiten, untereinander und gegenüber unseren Gegnern? Und schließlich: Gab es für uns beide noch einen gemeinsamen Weg?

In diesen Momenten erinnere ich mich aber an die Dinge, auf die wir einst gemeinsam gehofft haben und die auch durch dein Wirken für mich wahr wurden. Dass der homosexuelle Migrantensohn heutzutage sein Dasein nicht etwa unauffällig, still, angemessen in den Reihen der Gesellschaft fristet, sondern sein Leben selbstbestimmt gestalten kann und gehört wird, das und mehr, liebe Tante SPD, ist auch dein Verdienst.

Wir Utopisten

Ich will nach vorne schauen und glaube, dass es weiterhin einen gemeinsamen Weg für uns gibt. Und noch gibt es zu viele Menschen, deren Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Ich will dir deshalb heute von Menschen berichten, die mir in letzter Zeit häufiger begegnet sind. Menschen wie ich, die sich nicht mit dem Ist-Zustand der Welt abgeben wollen, die nicht einfach nur unsere bisherigen Errungenschaften verwalten wollen, in der Hoffnung, nur die schlimmsten Katastrophen abwenden zu können. Menschen, die einem gerüttelt Maß an Pragmatismus einiges abgewinnen können, nicht aber der grassierenden Pragmatitis mit ihrer Kurzsichtigkeit und Verzagtheit. Unter diesen Menschen sind viele Sozialdemokraten, die es Leid sind zu hören, ja, als Sozialdemokrat habe man ein stürmisches Herz, aber so richtig mitmachen, das dürfe nur, wer den Braven spiele.

Wir Utopisten sind überall. Wir sind nicht Arbeitskreis einer Partei, Mitglieder eines Vereins oder eine Aktionstruppe. Wir sind keine verträumten Spinner, wir erklären nicht alles gleich zur Grundsatzfrage und wir verfallen nicht dem Extremismus. Wir Utopisten sind die wahren Realisten. Wir stellen uns den Grundfragen unserer Gesellschaft. Wir trauen uns zu träumen, ohne uns von unseren Träumen verführen zu lassen.

Du selbst, liebe Tante SPD, hast für viele Utopien gekämpft: Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Freiheit. Ich will dir heute von einigen weiteren Utopien berichten, von denen ich glaube, dass wir, die Utopisten unter den Sozialdemokraten, sie gemein haben, in der Hoffnung, dass wir sie gemeinsam verwirklichen können.

Heimat, Familie, Tradition als linke Utopien

Lass uns eine Heimat für alle bauen, in der die Menschen ein Leben in Würde leben können. Eine Heimat, die nicht ein Bollwerk gegen alles Fremde ist, kein Ort, an dem alle gleichartig oder gleichgeschaltet sind. Eine Heimat, die Geborgenheit und Vertrautheit bietet, welche aber nur entstehen können, wenn wir uns unseren Mitmenschen und den Dingen um uns herum öffnen, wenn wir uns mit ihnen vertraut machen. Für unsere Heimat gilt deshalb auch: Heimat ist ein Ort der Begegnung. Kein Freund, kein Nachbar, kein Gast, kein Neuankömmling gleicht exakt dem anderen. Tagtäglich bringen Menschen auf der Arbeit, im Verein, in der Gemeinde Menschen verschiedenster Art unter einen Hut. Man muss nicht um die ganze Welt gereist sein, um Verschiedenheit erlebt zu haben: Vielfalt ist ein Urzustand der Natur und damit des Menschen. Wir haben sie direkt vor der Haustür, oft auch dahinter. An den Orten, die wir Heimat nennen, werden unsere Erfahrungen mit Begegnungen geprägt. Nur wenn wir diese Begegnungen zulassen und diese Erfahrungen in uns tragen, wohin wir auch gehen, aus dem Kleinen für das Große lernen, wie wir auch aus dem Großen für das Kleine lernen können, nur dann können wir die ganze Welt zu einem Ort der Begegnung machen.

Lass uns in unserer Gesellschaft zusammenleben wie eine große Familie. Eine Familie, in der für Viele Platz ist, in der wir uns entfalten können, ohne andere außer Acht zu lassen. Eine Familie, in der nicht verletzender Spott, aber Humor eine reife Art und Weise ist, sich mit den Eigenheiten der Menschen auseinanderzusetzen. Eine Familie, in der Unterstützung, Anteilnahme und Teilhabe zentrale Werte sind, in der es nur einem zwanghaften Daueroptimierer oder einem Menschenfeind einfallen kann, diejenigen, die sich für andere einsetzen, als naive Gutmenschen zu bezeichnen und dies als Beschimpfung zu meinen. Nein, kein Zuckerwattenwolkenkuckucksheim, sondern eine Familie, in der es auch mal rumpelt, in der man sich auch mal die Meinung sagen kann, wohl wissend, dass wir schlussendlich wieder alle an einem Tisch sitzen. Eine Familie, in der wir die grundlegenden Ressourcen frei miteinander teilen. Eine Familie, in der es natürlich auch in Ordnung ist, sich mal um die besten Plätze zu streiten, in der Kunst, in der Wissenschaft, im Sport, in der Wirtschaft, aber in der die Leitlinie unseres Handelns immer die Frage ist, wie am Ende unsere Gemeinschaft davon profitiert.

Lass uns aber nicht nur untereinander gut leben. Wir wollen auch im Einklang leben mit der, aus der wir kommen, derer wir Teil sind: mit der Natur. Wir wollen wieder lernen, mit ihr in einem Rhythmus zu schwingen, sie zu hegen und zu pflegen, so, wie sie uns hegt und pflegt. Wir wollen aufhören, nur an ihr zu verdienen, wir wollen uns wieder um sie verdient machen und sie nicht weiter als reine Produktionsressource betrachten. Nur so können wir eine tragfähige Lebensgrundlage für uns und für die Generationen nach uns schaffen.

Lass uns auch im Einklang Leben mit dem, was wir erschaffen, was aus uns heraus kommt: mit der Technologie. Wir erfinden Technologie, weil wir unser Leben bereichern wollen, weil wir es einfacher machen und uns mehr Möglichkeiten eröffnen wollen. Wir wollen Technologie aber so gestalten, dass wir sie beherrschen und nicht sie uns. Wir wollen sie als Chance begreifen, für uns und für andere, nicht als neue Form der Knechtschaft.

Lass uns diese und weitere Utopien zu einer Tradition verbinden, so, wie unsere große Wahlfamilie eine lange Tradition hat, so, wie dein Kampf für Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Freiheit eine lange Tradition hat. Zu einer Tradition, in der wir auch zurückschauen, um das, was bisher gut war, zu erkennen, aber nicht eine Tradition, die daraus besteht, Überkommenes zu überhöhen. Sondern eine Tradition, in der wir das Gute bewahren und das zu Verändernde anpacken. Eine Tradition des gemeinsamen nach vorne Schauens. Nicht nur eine Tradition mit Zukunft, sondern eine Tradition der Zukunft.

Gemeinsam in die Zukunft

Wir Utopisten wissen, dass diese und weitere Utopien nicht Sache eines Parteitagsbeschluss oder einer Legislaturperiode sind. Vieles ist eine Aufgabe für Generationen, wofür wir den Grundstein aber schon heute legen können. Es beginnt damit, dass wir uns aufrecht hinsetzen können und uns trauen, Ziele ins Auge fassen, die uns bisher zu gewagt vorkamen. Damit, dass wir uns nicht damit begnügen, uns am Heute festzuhalten, sondern den Mut fassen, einen Schritt nach vorne zu machen. Damit, dass wir uns vornehmen, ein Gutes Heute und daraus ein Besseres Morgen zu schaffen. Ein Besseres Morgen beginnt mit einem Guten Heute, und eines, das kann ich für alle Utopisten, egal, wo sie sind, sagen: Wir lassen uns weder das Bessere Morgen noch das Gute Heute von irgendwelchen Ewiggestrigen wegnehmen!

Heimat, Vielfalt, Begegnung, Familie, Unterstützung, Teilhabe, Humor, Einklang, Natur, Technologie, Tradition, Zukunft sind einige der vielen Stationen auf dem weiten Weg, den wir Utopisten noch vor uns haben. In meiner Erinnerung sehe ich dich vor mir, liebe Tante SPD: mit deinem Gesicht, keine klassische Schönheit, aber sympathisch; mit deinem Haarschnitt, nicht der neueste Schrei, aber praktisch; mit deinem Mantel, an manchen Stellen schon etwas abgewetzt, aber unter dem noch sehr viel mehr Leben steckt, als sich auf den ersten Blick erahnen lässt. Ich hoffe darauf, dass du, liebe Tante SPD, uns auf diesem Weg zur Seite stehst. Ich will im Gegenzug einer von den Vielen sein, die dir auf diesem Weg zur Seite stehen.

Herzlichst
Dein Oliver

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Oliver Czulo

Sozial-ökologisch-progressiv. Privat gelegentlich ein unverbesserlicher Optimist.

Oliver Czulo

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden