Wahlkuscheln statt Wahlkampf, Episode 2: Alle wollen mehr Polizei

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Nachdem bereits am Sonntag Kanzlerin und Vizekanzler mit einer öffentlichen Kabinettsitzung gelangweilt hatten, durften gestern Westerwelle, Trittin und Lafontaine für die im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien in den Talkshow-Ring der ARD steigen. Zuvor hatten sich FDP, Grüne und Linke lautstark darüber beschwert, von dem vorab als Höhepunkt des Wahlkampfs ausgelobten "Kanzlerduell" ausgesperrt worden zu sein: Eine Debatte ohne Opposition sei keine Kontroverse.

Lange hat der Vorsatz, die Selbstbeweihräucherung der Großkoalitionäre aufzumischen, nicht gehalten. Gleich zur Eingangsfrage, welche politischen Konsequenzen ein Überfall haben sollte, bei dem am Wochenende in München ein Mann zu Tode geprügelt worden war, fiel den drei Kombattanten nichts anderes ein, als unisono nach mehr Polizei in S-Bahnen und auf Bahnsteigen zu rufen. Wenn dies Vertreter der beiden Parteien, die Kanther, Schily und Schäuble hervorgebracht haben, geäußert hätten, dann wäre das wohl kaum ein Anlass zur Verwunderung gewesen. Nun führt aber die FDP das Wort "Freiheit" ganz vorne im Parteinamen, die Grünen verstehen sich als Bürgerrechtspartei schlechthin, und die Linke brüstet sich abwechselnd damit, die Partei linker Utopien oder die Hüterin einer sozialdemokratischen Tradition zu sein, die auch einmal Slogans wie "Mehr Demokratie wagen!" buchstabieren konnte. Möglicherweise hätte man wenigstens von einem der drei erwarten können, einmal für zwei Sekunden nachzudenken und etwas zu sagen, was vielleicht etwas mehr auf die Ursachen als auf Symptombekämpfung zielt, dass eine Omnipräsenz von Uniformierten nicht unbedingt so etwas wie Sicherheit garantiert oder auch, dass es keineswegs wünschenwert sein kann, wenn nur die unmittelbare Sanktionsandrohung Menschen davon abhält, Schwächeren die Köpfe einzuschlagen. Nichts dergleichen. Nur das eine: mehr Polizei, mehr Überwachungskameras.

Mit zwei weiteren Sekunden Bedenkzeit wäre möglicherweise auch drin gewesen, von dem jugendlichen Alter der Täter auf ein Bildungssystem zu schließen, das aus dem vorletzten Jahrhundert stammt und für das Kaiserreich mit Autoritätshörigkeit und Dreiklassenwahlrecht angemessen gewesen sein mag, in der Wissensgesellschaft aber
Probleme hervorbringen kann, die von Zeit zu Zeit unangenehme Nebenwirkungen in B-Ebenen und auf Bahnsteigen nach sich ziehen. Denn wenn diejenigen, die im Alter von zehn Jahren aussortiert und aufs Abstellgleis gestellt wurden, mit sechzehn oder siebzehn realisieren, dass sie verarscht wurden, und dass sie keine Chance haben, gegen eine institutionelle Macht, die sie zur Chancenlosigkeit verdammt hat, anzukommen, dann kann sich ohnmächtige Wut schon mal unerwartet auf Unbeteiligte entladen.

Aber das ist möglicherweise zu weit gedacht. Etwas direkter verwundert dann doch, dass an dem selben Wochenende in Berlin eine Demonstration mit fünfstelliger Beteiligung stattgefunden hat, die unter dem Motto "Freiheit statt Angst" gegen genau solche Law-and-Order-Reflexe warb, wie sie Westerwelle, Trittin und Lafontaine zum Besten gaben, und dass ihre drei Parteien an dieser Demonstration zahlreich und namhaft beteiligt gewesen sind. Die Kehrtwende nach nur zwei Tagen ist schon bemerkenswert. Aber auch das ist noch nicht alles. Seit drei Tagen erscheint in allen Medien ein Video von einer anderen Prügelei, die sich auf genau dieser Demonstration zugetragen hat. Dabei ist niemand gestorben, aber es wurde ebenfalls ein Mann, der für niemanden eine Bedrohung darstellte, mit voller Wucht in Gesicht geschlagen, zu Boden gezerrt und dort weitergeprügelt. Die Täter waren in diesem Fall Polizisten, und wie sich inzwischen herausstellt, war der "Anlass" für die Prügelei durchaus mit dem in München vergleichbar: der Mann hatte nach der Dienstnummmer eines Polizisten gefragt, weil dieser zuvor schon zugeschlagen hatte. In München hatte ein 50jähriger zunächst Kinder vor den Schlägern beschützt und aus der S-Bahn gebracht. Jemand zeigt Zivilcourage und setzt sich dafür ein, den Geschlagenen zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Konsequenz ist in beiden Fällen eine überfallartige Wutexplosion, mit unabsehbaren Folgen für die Gesundheit der Opfer. Und was ist die Konsequenz? Mehr Polizei, mehr Überwachung. Etwas anderes können die im Bundestag vertretenen Parteien offenbar nicht.

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Geschrieben von

da5id

it worker, cyberpunk radical

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