Iran: Schlächter von Teheran wird Präsident?

Präsidentenwahl – Ursachen des Wahlboykotts im Iran zeigen mehr als einen Wechsel der Regierung an

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Internationale Nachrichtenorgane haben wachsende Aufmerksamkeit auf den bevorstehenden Boykott der Präsidentenwahl im Iran gezeigt. Die Wahl soll am kommenden Freitag stattfinden und sogar einige staatliche Medien des Iran rätseln, ob die Wahlbeteiligung noch niedriger sein könnte als vor sechs Monaten, als zum letzten Mal das Parlament gewählt wurde. Es dürfte westlichen Medien nicht leicht fallen, ein Phänomen zu ignorieren, das zu vertuschen sogar das iranische Regime sich keine große Mühe gibt. Hingegen könnten die gleichen Medien leichter gewisse Faktoren, die ursächlich für den Boykott sind, übersehen, und das ist offenbar auch geschehen.

Die meisten Berichte, die in den USA und in Europa veröffentlicht werden, scheinen die Apathie der Wähler der geringen Auswahl an Kandidaten zuzuschreiben, verbunden mit der Enttäuschung über die Wirtschaftskrise und die überbordende Korruption. Diese Phänomene kommen der Boykottbewegung gewiss zugute, aber westliche Berichte neigen dazu, zu übersehen, dass diese Bewegung ihrerseits ihre tiefen Ursachen in den außergewöhnlichen Problemen hat, mit denen das iranische Regime nach den Wahlen vom nächsten Freitag und nach der voraussichtlichen Ernennung von Ebrahim Raissi zum nächsten Präsidenten zu tun haben wird.

Eingebetteter Medieninhalt

Raissi ist zurzeit Oberhaupt der iranischen Justiz, ein Amt, in das der Oberste Führer Ali Khamenei ihn 2019 einsetzte. Ein Gremium, das Wächterrat heißt, hat die Aufgabe, die Autorität des Präsidentenamtes zu garantieren. Dazu prüft es die Bewerber um das hohe Amt, und in diesem Jahr hat es von nahezu 600 Bewerbern, die sich angemeldet hatten, nur sieben zur Kandidatur zugelassen. Im Bewusstsein, dass Khamenei seine Wahl des Nachfolgers von Rohani bereits getroffen habe, hat der Rat niemanden zugelassen, der die Wahl Raissis in Frage stellen könnte.

Als Chef der iranischen Justiz beaufsichtigte Raissi die ersten Angriffe auf Teilnehmer an der Erhebung vom November 2019, dann auch die Verhöre und die Folterung von tausenden Aktivisten, die während der Unruhen und unmittelbar danach festgenommen wurden. Während dieser Erhebung wurden mehr als 1500 Demonstranten getötet und mindestens 12.000 festgenommen. Später verbreitete Amnesty International einen Bericht, in dem festgehalten wurde, dass die Folterung von Inhaftierten sofort begonnen und monatelang gedauert hatte. Die Folter schien zu bestätigen, was Raissi sofort nach seinem Amtsantritt als Chef der Justiz hatte erkennen lassen: dass der Iran in eine Periode eingetreten war, in der die Unterdrückung anderer Meinungen als der herrschenden schlimmer als in den Jahren, vielleicht sogar in den Jahrzehnten zuvor sein würde.

Dies dürften angesichts der Vergangenheit Raissis viele erwartet haben. Sie ist vor allem bestimmt durch seine führende Rolle beim Massaker an politischen Gefangenen, das im Sommer 1988 stattfand. Es wird geschätzt, dass das iranische Regime in dieser Zeit etwa 30.000 Menschen im ganzen Land getötet hat. Die meisten von ihnen waren Mitglieder und Unterstützer der Organisation der Volksmodjahedin Iran (PMOI/MEK). Als Mitglied des Teheraner "Todeskomitees", das politische Gefangene nach ihrer Zugehörigkeit befragte und sie dann zum Galgen schickte, trägt Raissi die Verantwortung für einen großen Teil dieser Ermordungen.

Das iranische Volk weiß dies alles. Die meisten Bürgerinnen und Bürger erkennen: Die Ernennung Raissis durch den Obersten Führer ist ein Zeichen dessen, dass das Regime nicht nur die kürzer zurückliegenden Angriffe auf Protestierende, sondern auch das Massaker billigt, das als das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ausgehenden 20. Jahrhundert bezeichnet worden ist.

Die westlichen Medien müssen begreifen, dass dies mehr ist als ein nebensächlicher Faktor der zu erwartenden geringsten Wahlbeteiligung. Wenn diese wirklich so niedrig ausfällt, wie viele iranischen Aktivisten und einige staatliche Medien vorhersagen, dann wird das viel mehr bedeuten als die Ablehnung Raissis und der anderen Kandidaten durch das Wahlvolk. Es wird auch viel mehr sein als die Ablehnung des Wahlverfahrens und anderer "Farcen", die das Regime sich bisher erlaubt hat. Es wird zuinnerst ein Zeichen dessen sein, dass die Forderungen der Erhebungen von 2018 und 2019 weiterhin unterstützt werden, die unzweideutigen Forderungen nach Regimewechsel und einer demokratischen Regierung, die die theokratische Diktatur ablösen soll.

Die internationale Gemeinschaft muss all dies beachten und berücksichtigen, was es für die Zukunft des Iran bedeutet. Unruhen und ihre Bekämpfung sind beide unausweichlich, und alle Weltmächte werden sich bald entscheiden müssen, ob sie dem iranischen Volk im Kampf gegen seine unterdrückerische Regierung beistehen oder dieses Regime unterstützen wollen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Javad Dabiran

NWRI-Deutschlandsprecher - Iran- und Nahost-Experte.

Javad Dabiran

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