Biografie der Obsessionen

Sie brauchen Gefühl Liane Dirks Roman "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen"

Was für ein Mann! Ein begnadeter Koch und ein fesselnder Geschichtenerzähler, charmant, weltläufig, überzeugend. Und gefährdet. Denn es gibt in ihm etwas Dunkles, das sich ausleben will und damit ihn selbst und seine Familie bedroht.

Liane Dirks erzählt die Geschichte ihres Vaters wie die eines Fremden: ein Roman als Recherche. Das Buch setzt mit Günther Dirks` Geburt ein. Schon zwei Wochen nach der Niederkunft bedient Mutter Luise wieder in ihrem Schönheitssalon die gehobene hamburger Klientel und überlässt den Säugling der jungen Karibin Nune, deren exotischer Anmut Vater Johannes verfallen ist. Drinnen riecht es nach den Crémes, die Luise kreiert, draußen nach Hafen und Wind.

Die punktuell eingestreuten Wetterberichte, die Erwähnung der auslaufenden Schiffe oder anlaufenden Filme, die Schlager-Titel und Werbetexte belegen nicht nur die historische Akribie der Autorin. Im Verlauf der Lektüre ergibt sich ein atmosphärisch dichter Eindruck vom Hamburg der zwanziger und dreißiger Jahre, von den Lebensbedingungen dort, von Mentalitäten und Moden und deren Wandel im Übergang von den roaring twenties zum Faschismus.

Das ist die Zeitspanne, in der Günther aufwächst, zunächst artig im Kleidchen die Kundinnen entzückt, dann in der Schule HJ-Koppeln wichst und schließlich im "Vier Jahreszeiten" vom Hotelpagen zum Koch avanciert. Liane Dirks geht es bei der Rekonstruktion dieser Jugend zwar auch um das biographisch Festmachbare, vor allem aber um die Lehrjahre des Gefühls. Und da dieses Gefühl, wie der Leser erst später erfährt, ins Monströse mutierte, ist das Erkenntnisinteresse auf das Wie, Wann und Warum gerichtet - und dabei naturgemäß auf Vermutungen angewiesen.

Direkte Einfühlung verbietet sich die Autorin, wählt lieber einen Umweg. Sie beschreibt die äußere Realität und zwar so, wie sie ihrer Meinung nach auf Günther Dirks gewirkt haben muss. Es ist eine Welt der sinnlichen Reize, da schmeckt es, riecht, fühlt sich an, leuchtet - meist in zwielichtigen Tönen: "Er lernte töten, abstechen, ausnehmen, schuppen, häuten, filetieren, vor allem aber lernte er, was sie brauchen, die Fische. Sie brauchen Gefühl. Man muss sie betrachten, man muss an ihnen riechen, ihre Augen besehen, drüberreiben, man muss sie durch die Hände gleiten lassen". Ob beim Kochen, bei den Massagen im Schönheitssalon oder bei den sexuellen Erkundungen des Vaters (deren Zeuge Klein-Günther wird), stets geht es darum, dem Genuss neues, noch unbetretenes Terrain zu eröffnen. Das gilt dann auch für die Exzesse, die Kraft durch Freude - Initiator Robert Ley mit seinen Kumpanen in der Hotelsuite inszeniert: Die Anwesenheit des schmucken Pagen ist erwünscht.

Liane Dirks nimmt gleichsam versuchsweise die Position des allwissenden Erzählers ein. Sie gestaltet ihr Thema keineswegs schwelgerisch, sondern eher lapidar, begnügt sich mit Andeutungen, kurzen Situationsbeschreibungen, Alltagsdetails, überraschenden Kontraktionen, die scheinbar Disparates zusammenbringen, - das alles in einem ungerührten und dennoch zuweilen auf fast unheimliche Weise poetischen Erzählton.

Erst auf Seite 111 heißt es einmal: "Mein Vater". Da ist Günther bereits ausgelernter Koch, 18 Jahre alt und wird eingezogen. Er kommt nicht, wie erhofft, nach Frankreich, sondern an die Ostfront. Und Dank seiner Kochkünste und einer Portion Glück darum herum, Menschen zu töten. In den letzten Kriegstagen setzt er sich ab, lernt seine spätere Frau Greta kennen, erinnert sich bei den amerikanischen Besatzern seiner fernen jüdischen Herkunft, zeugt eine Tochter, die er ungebührlich hätschelt, versucht in Frankreich und Belgien Fuß zu fassen, um dann schließlich in Hamburg eine Imbissbude zu betreiben. Als die zweite Tochter geboren wird, hat er die erste Alkoholkrise hinter sich und arbeitet, leidlich genesen, wieder als Gourmetkoch.

Ende der fünfziger Jahre kommt ein Telegramm aus Barbados. Jugendfreund Ludger hat dort ein Nobelhotel übernommen, Küchenchef soll Günther werden. Der willigt sofort ein. Die Familie kommt nach. Und die Tropenluft wirkt wie befreiend. Aber wie es mit Paradiesen so ist: Der Mensch ist ihnen nicht gewachsen, irgendwo lockt die Versuchung, lockt das Böse. Der Leser fühlt sich streckenweise in einen unter Palmen gedrehten David Lynch-Film versetzt. Von der Befreiung zur Enthemmung - und damit zum Selbstverlust - ist es für Günther nicht weit. Diese "Mischung aus Angst und Seligkeit", aus der ihm als junger Mann Lust erwuchs, überträgt sich auf die Töchter als konkrete Bedrohung. Sie werden jahrelang missbraucht, ohne den Vater dafür hassen zu können. Erst sehr viel später, als sie alle wieder in Deutschland leben, wird er angezeigt. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt verschwindet er aus dem Leben der Familie. Auch die literarische Anamnese der väterlichen Obsessionen verliert sich buchstäblich im Nebel.

Die Autorin hat Teile dieser Geschichte schon einmal erzählt, 1986, in ihrem ersten Roman Die liebe Angst, damals aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, das man nirgendwo heimisch werden lässt. Nun aber kann sie den Vater begraben.

Der Wechsel in die Ich-Perspektive im letzten Teil des Romans ist nur konsequent. Die Beschreibung der Reise der erwachsenen Tochter nach Barbados zu dem verschollen geglaubten und unmittelbar vor ihrer Ankunft verstorbenen Vater gehört in ihrer rücksichtsfreien Direktheit zu den beeindruckendsten Passagen des Buchs. Eines Buches, das sehr viel mehr als eine Inzest-Geschichte und deren literarisch-therapeutische Behandlung bietet, das weder moralisiert, noch die Opferperspektive ausschlachtet, und mit dem man gerade deshalb - auch nach den Schlusszeilen - nicht fertig wird: "Mein Herz schlägt, ich fühle meinen Körper, aber manchmal schau ich verwundert das Leben an, was Menschen alles machen."

Liane Dirks: Vier Arten meinen Vater zu beerdigen. Roman. Kiepenheuer Witsch, Köln 2002. 245 S., 19,90 Euro

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