Am Ende des ersten Treffens im November hat die Gruppe „Spielplatz“ sich auf etwas geeinigt: auf zwei Spielplatzmodelle oder auch eine Kombination aus beiden, auf fünf Orte, an denen sie entstehen könnten, und auf einen Termin für eine Ortsbegehung. Ein gutes Ergebnis für fünf Teilnehmer. Es gab so viele Ideen, dass Rami Hamze als Moderator zwischenzeitlich schon mal nachfragen musste, von welcher gerade die Rede war.
Genau so wollte Hamze, Filmemacher aus Köln und Initiator des Projekts „Kalk für alle“, es aber haben: Dass die Leute des Problembezirks Köln-Kalk sich selbst etwas ausdenken und debattieren. Natürlich soll es dann auch eine sichtbare Veränderung im Viertel geben. Hamze, 31, Vollbart und lange, zu einem Knoten gebundene Haare, hat mit seinem Team ein Ladenlokal eingerichtet, in dem es Türkischkurse, Kinofilme und Platz zum Reden gibt. Von Mitte Oktober bis Anfang Dezember – in diesem Zeitraum sollten die Kalker sich treffen, diskutieren und am Ende mithilfe einer Mediatorin auf einen Vorschlag einigen.
Stadtteil zum Mitbestimmen
Der 31-jährige Hamze hat an der Kunsthochschule für Medien in Köln Film und Fernsehen studiert und vorher unter anderem Graffito, einen Kurzfilm über einen deutschen Superhelden, der nach Amerika auswandert, gedreht. Für sein Demokratie-Experiment wählte er bewusst Kalk, ein ehemaliges Industriegebiet, das als Dienstleistungsort neu erblühen soll.
„Das Projekt ist der Versuch, in einem Stadtteil, der sich anscheinend gerade gentrifiziert, allen die Möglichkeit zum Mitbestimmen zu geben“, sagt Hamze. „Dabei möchte ich Leute verschiedener Ethnien und Kontexte zusammenbringen.“ Er will ein Gegengewicht zu den Entscheidungen schaffen, die sonst ohne direkte Befragung der Bürger fallen. „‚Kalk für alle‘ ist echte Demokratie“, steht auf der Webseite und: „Nur der Bürgerwille zählt.“ Insgesamt 10.000 Euro Spendengelder dürfen die Bürger nun verplanen. „Damit das keine reine Laberveranstaltung wird“, sagt Hamze.
Diejenigen, die an diesem Novembernachmittag gekommen sind, nehmen die Sache ernst. An den blauen Tischen des Ladenlokals sitzen zwei Sonderpädagoginnen, eine Mediendesignerin, ein Autor für E-Learning und ein kaufmännischer Angestellter. Die eine Pädagogin hat ein Konzept für einen Kletterplatz mit professionellen Betreuern mitgebracht. „Ich will mit Kindern etwas entwickeln“, widerspricht der kaufmännische Angestellte, „keine weitere fertige Klettermöglichkeit“. Den anderen gefällt das Konzept, weil es machbar scheint. Hamze spielt während der Debatte mit seinem Stift, als helfe er beim Überlegen.
Von Wlan bis Kinderoper
Mehr als 20 Ideen gab es anfangs, vom freien Wlan bis zur Kinderoper; aber manche hatten nur einen Unterstützer. Also hat er die Ideen thematisch zusammengefasst. „Aber ich zwinge niemanden, in einer Gruppe zu sein“, sagt er in der Diskussion. Am Ende müssen die Teams jeweils eine Stimme abgeben. Er glaubt, dass jedes sich selbst wählt, dann in der zweiten Runde ein anderes. Wenn sie erkennen, dass mit einem kleinen Teil des Geldes kaum was anzufangen ist.
„Das ist ein demokratischer Prozess – vielleicht lassen wir uns ja von was anderem überzeugen“, sagt eine der zwei Pädagoginnen, nachdem sich ihre Gruppe auf eine Ortsbegehung geeinigt hat. „Oder wir verleiben uns andere ein“, sagt die andere. Sie möchte noch mehr Leute motivieren mitzumachen. „Wir neigen ja immer dazu, zu meckern. Also dachte ich, jetzt versuch‘ ich mal, was anzustoßen.“ Der E-Learning-Autor hat das mit einem Werkraum für Jugendliche bereits getan.
Die Kamera ist immer dabei
„Es machen vor allem die mit, die sich ohnehin engagieren“, sagt Hamze. „Als Migrant hatte ich gehofft, eine andere Sprache zu finden, um Migranten einzubinden. Aber es sind nur zwei aktiv dabei.“ Er selbst hat palästinensisch-syrische Wurzeln und wie fast jeder Zweite in Kalk Migrationshintergrund. Viele kämen jedoch aus Gesellschaften, in denen Partizipation nicht üblich sei, so erklärt es sich Hamze. Zudem gibt es schon viele Angebote in Kalk.
Selbst wenn Rami Hamze die geringe Beteiligung manchmal frustriert – er scheint immer bester Laune und nimmt es mit Humor. „Ah, ihr lebt da, wo diese jungen Familien wohnen, die etwas mehr Geld haben“, stichelt er schon mal. Als jemand einen Kommentar nicht veröffentlicht wissen möchte, fragt er nach dem Rückgrat. Eine Meinung ist wichtig, steht in der Projektbeschreibung. Wer zu dieser Veranstaltung kommt, der müsse sich damit auch ins Fernsehen trauen. WDR und Filmstiftung NRW stellten nämlich Geld für die Produktion eines Films zur Verfügung. Tonangel und Kamera sind immer dabei. Das kann abschrecken, vermutet jemand.
Viele Schaukämpfe
Das Preisgeld konnte Hamze in der Filmbranche lockermachen – politische Stiftungen und Kunststiftungen habe er vergeblich um Spenden gebeten. „Immer hieß es: ‚Tolle Idee, dass endlich die Bürger entscheiden‘“, erzählt er und grinst. „Aber wir wissen ja vorher gar nicht, wofür wir das Geld geben.“
Samstag letzter Woche wurde über die einzelnen Ideen entschieden. 50 Leute waren gekommen, formiert in neun Gruppen. Um den Bürgerwillen wirklich umzusetzen, beschloss Hamze mit ihnen erstmal die Spielregeln. Sie stimmten zwei Stunden darüber ab, wie sie abstimmen wollten. 1. Ergebnis: Jede Gruppe hat drei Stimmen und darf nicht sich selbst wählen. 2. Ergebnis nach etwa sieben Stunden Diskussion: Das Ladenlokal wird ein halbes Jahr weitergeführt, eine Geld-Leihgemeinschaft bekommt 2.000 Euro, und es werden zwei Umsonstregale auf einem öffentlichen Platz aufgestellt. Wie im großen demokratischen Modell habe es viele Schaukämpfe gegeben, sagt Hamze. Kalk für alle? Viele kämpften erstmal für ihr eigenes Projekt.
Dagny Riegel schrieb im Freitag zuletzt über den Boom der Esoterikbranche
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