°Dieser hässliche, herzlose Fleck°

Artikel 16 GG Wie Artikel 16 ins Grundgesetz kam und ihm der Inhalt 1993 genommen wurde, anläßlich der Rede von Navid Kermani vor dem Bundestag zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes.

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Die Rede von Navid Kermani, (die man unbedingt komplett lesen sollte, sie ist voller Liebe und Versöhnung, Unnachgiebigkeit und Zorn), daraus:

Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten. Ein wundervoll bündiger Satz ‑ „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ ‑ geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat.

(Beifall)

Muss man tatsächlich daran erinnern, dass auch Willy Brandt, bei dessen Nennung viele von Ihnen quer durch die Reihen beifällig genickt haben, ein Flüchtling war, ein Asylant?

Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen.

(Beifall)

Andere ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen.

(Beifall)

Und es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben, damit sie nicht auf das Asylrecht zurückgreifen müssen.

(Beifall)

Denn von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, kann auch zwei Jahrzehnte später keine Rede sein, und schon sprachlich schmerzt der Missbrauch, der mit dem Grundgesetz getrieben wird. Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16 seine Würde genommen.

(Beifall)

Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem hässlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein, verehrte Abgeordnete.

Ich frage mich ja, wer da eigentlich nach geradezu jedem Satz applaudiert hat? Waren CDU/CSU und SPD nicht im Saal?

Die durch Schleusung durch das Asylverfahren aller Flüchtlinge aus den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien künstlich gepushten Zahlen, der so politisch herbeigezauberte "Asylkompromiss" und die damit faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl diente als Blaupause für die militärische Flüchtlingsabwehr der Festung Europa an den europäischen Außengrenzen. Er wurde durch das Einknicken der SPD nach über einem Jahrzehnt fortgesetzter Hetze gegen "Ausländer" der CDU/CSU ermöglicht und war unmittelbare Reaktion auf das Staatsversagen vor, während und nach dem von westdeutschen Rechtsextremisten konzertierten Pogrom in Rostock-Lichtenhagen.

Das sind Anlässe zu Scham und Gründe für schnellstmögliche Wiedereinführung des ursprünglichen Artikel 16, nicht für leeren hohlen Beifall.

Interessant und brandaktuell ist die Diskussion im Parlamentarischen Rat am 23.9.1948, die verdeutlicht, wie der Artikel 16 ins Grundgesetz kam und warum er in seiner prägnanten Kürze darin sein muß, daraus:

Für die Skeptiker wandte gegen ein schlichtes (und daher offenes) Asylrecht Hermann Fecht (CDU) ein, es würde zum Beispiel italienischen Faschisten ein Unterschlüpfen in der zukünftigen Bundesrepublik erlauben.

Carlo Schmid hielt diesem Argument sehr energisch entgegen, das Asylrecht gelte im Rahmen eines völkerrechtlichen Konsenses, wonach politische Attentäter und Mörder jederzeit auszuliefern seien. Darüber hinaus sei die Asylgewährung immer auch eine Frage der Generosität, und wer generös sein wolle, müsse riskieren, „sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben“.

Carlo Schmid weiter: „Wenn man eine Einschränkung vornimmt, etwa so: Asylrecht ja, aber soweit der Mann uns politisch nahesteht oder sympathisch ist, so nimmt das zuviel weg.“

Diese Argumentation wurde durch von Mangoldt ausführlich unterstützt: „Ich brauche nur darauf hinzuweisen, wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgend etwas ausnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift wertlos.“

Wiederum Carlo Schmid: „Dann beginnt das Spiel: Man schickt den Mann zurück, oder man schickt ihn an die andere Grenze, und von dort geht es wieder weiter.“

Wer würde in diesen Worten nicht die Odyssee heutiger Asylsuchender wiedererkennen?

Der UNHCR zählt derzeit rund 45 Millionen Flüchtlinge weltweit, davon sind 33 Millionen Menschen Binnenflüchtlinge, beides die höchsten Zahlen ever. In Syrien ist etwa jede Minute eine Familie zur Flucht gezwungen.

Die, die es über eine Grenze schaffen, bleiben in ihrer übergroßen Mehrheit in den Anrainerstaaten, zum Beispiel im Libanon, wo über 1 Million syrische Kriegsflüchtlinge aufgenommen wurde, etwa 2500 Menschen an einem Tag. Ein Syrer flieht zu drei Libanesen.

In der Türkei leben 800.000 syrische Flüchtlinge, etwa 250.000 in vorbildlich angelegten und geführten Flüchtlingslagern: How to Build a Perfect Refugee Camp. In Jordanien wurden weit mehr als 500.000 Menschen aufgenommen, Brot und Trinkwasser sind knapp.

Nach Europa kamen etwas mehr als 50.000 syrische Kriegsflüchtlinge.

Aber in Deutschland war ja bereits seit dem Strausswahlkampf 1980 das Boot voll, ein Spruch, der angesichts der zahllosen, im Mittelmeer Ertrunkenen an Zynismus kaum zu überbieten ist. Zu uns dürfen 10.000 Syrer fliehen, die man sich vorher säuberlich nach Akademiker- und Christentum und nach syrischstämmiger deutscher Verwandtschaft aussucht.

Navid Kermani sagt es: Möge das Grundgesetz schnellstens von °diesem hässlichen, herzlosen Fleck° gereinigt sein.

Danke an Daniel Martienssen für den Anstoß.
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