Sonderzug nach Beirut

Grenzüberschreitend Das Middle-East-Union-Festival in Berlin lotet Utopien aus
Ausgabe 33/2021

Es klingt wie eine realitätsferne Kopfgeburt: eine „Middle East Union“, bei der sich die Menschen des Nahen Ostens über die Feindschaften und Grenzen hinweg friedlich begegnen und austauschen. Genau dieser Gedanke aber lag dem viertägigen Festival zugrunde, das am Sonntag in Berlin zu Ende ging.

An ausgewählten Orten und digital übertragen loteten rund 40 Künstler:innen und Wissenschaftler, Autorinnen und Musiker Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer jeweiligen Lebenswelten, Sichtweisen und künstlerischen Ansätze aus. Mal ging es um geteilte jüdische und arabische Diasporaerfahrungen, mal um emanzipatorische Stimmen in Film und Fernsehen, mal um „das queere Potenzial“ der LGBTIQ*-Bewegungen oder einen grenzüberschreitenden Umweltaktivismus. Das Festival wurde von zwei arabisch-jüdischen Literaten kuratiert, dem in Berlin lebenden Dichter Mati Shemoelof und der Schriftstellerin Hila Amit, beide stammen aus Israel. Unterstützt wurden sie durch die palästinensische Umweltwissenschaftlerin Alaa Obeid, die aus Haifa zugeschaltet wurde.

War es mal anders? Mehr als ein*e Mitwirkende des Festivals erinnerte daran, dass Großeltern und andere Vorfahren noch eine andere Realität kannten. „Mein Onkel hat als Kind seine Lungenentzündung im Libanon auskuriert. Damals konnte er von Haifa mit der Bahn hinfahren“, erzählte etwa Assaf Levitin, der Kantor der liberalen Synagoge in Hannover, bei seinem Konzert in der Synagoge am Kreuzberger Fraenkelufer. Ein anderer Verwandter hätte sein Diplom in Damaskus gemacht.

Mit dem syrischen Oud-Spieler, Gitarristen und Sänger Mazen Mohsen zeigte Levitin die Schnittmengen von arabischen und jüdischen Musiktraditionen. Sie liegen im Aramäischen, das als Sakralsprache überdauert hat, in den Musiktraditionen Andalusiens und des Osmanischen Reichs, in dem das jüdisch-sephardische Leben nach der Verbannung von der Iberischen Halbinsel eine rund 500-jährige Blütezeit erlebte. Mit dem Ersten Weltkrieg und den Nationalismen fand sie ein jähes Ende. Levitin und Mohsen spielten Werke des jüdischen Komponisten Alberto Hemsi, der in osmanischer Zeit in Mailand studierte und in Smyrna, dem heutigen Izmir, lebte und als musikalischer Direktor in Alexandria gewirkt hatte. Mit Klarinette und Oud, Gitarre und Gesang wurden arabische Musikskalen und jüdischer Liturgiegesang, osmanische Kompositionen und Gedichte des Sufi-Gelehrten Ibn-Arabi mit den Themen der Gegenwart zusammengeführt, etwa die Trauer über die Zerstörung Aleppos.

In der Musik sind nationalstaatliche Grenzen ohnehin zweitrangig. Das zeigten die iranisch-israelische Band Sistanagila, deren Auftritt von einem Zusammenbruch ihres Bassisten überschattet wurde, das Jazzprojekt Kayan der Sängerin Eden Cami oder das Trio Oriental des Percussionisten Tom Dayan, das kurzfristig einsprang und das Festival mit den zarten Klängen ihres Kanun, dem orientalischen Verwandten der Zither, ausklingen ließ.

Berlin erweist sich als guter Ort, um solchen nahöstlichen Austausch voranzubringen. Hier treffen Israelis, deren Vorfahren aus arabischen Ländern stammen, im Alltag mit Syrern und Iraner*innen zusammen, die aus ihren Ländern geflohen sind. Oder mit Einwanderer*innen aus Nordafrika und der Türkei, das auch.

Die nationalen Grenzen und der unterschiedliche Aufenthaltsstatus sind zweitrangig, sie stehen der direkten Begegnung jedenfalls nicht im Weg. Ob daraus das utopische Potenzial einer Veränderung in der Region selbst erwachsen kann, scheint eine romantische Fantasie. Andererseits konnte auch niemand ahnen, wie schnell einmal die Berliner Mauer fallen würde, als ein westdeutscher Rockmusiker mal von einem Sonderzug nach Pankow träumte. Jede Veränderung beginnt mit Menschen, die sie imaginieren.

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