Normale Menschen wünschen sich ein Dach über dem Kopf. Héloïse Letissier braucht Dächer unter ihren Füßen. Letztes Jahr im Sommer konnte man die Frau hinter Christine And The Queens auf dem Dach eines weißen Mercedes-Benz antreffen: Gemeinsam mit der englischen Popmusikerin Charli XCX sang Letissier dort den Popsong Gone über das klassische Popthema Einsamkeit auf der Tanzfläche. Im Video dazu beknieten und befummelten sich die beiden auf dem erwähnten Benz-Dach, während Regen-, Wind- und Nebelmaschine alle Register einer großen Popklischeeinszenierung zogen. Es war ein bildgewaltiger Moment, buchstäblich „over the top“. Eigentlich gibt es so was nur noch in der Halbzeitpause des Superbowls.
Sechs Monate sp
Sechs Monate später ist die Songwriterin, Sängerin, Produzentin und Tänzerin schon wieder ein paar Dächer weiter. Hoch über Paris trifft man sie diesmal im 14-minütigen Begleitfilm zu ihrer brandneuen EP La Vita Nuova: In einer leichtfüßigen Choreografie bewegt sie sich über die Feuertreppen und Schornsteinfegerwege des Palais Garnier hinweg. Im Hintergrund blitzen Wahrzeichen der Stadt auf und hinter Letissier plötzlich ein menschenähnliches Wesen, womöglich angelehnt an den griechischen Hirtengott Pan. Wieder sind es ikonische Bilder, die im Engtanz und Zweikampf der beiden – und den ästhetischen Referenzräumen des Pop – entstehen.Vor anderthalb Jahren ist Héloïse Letissier aus Nantes mit ihrem zweiten Album Chris der internationale Durchbruch gelungen. Der Sound war Synthie-Pop, das Thema Sex als Mittel der Befreiung und Besitzergreifung. Es roch nach Polyesterjacketts und Haarspray-Overkill, so sehr, dass man beinahe spüren konnte, wie sich dieses Album durch die Ozonschicht des Planeten fräste. Schon damals waren es die Bilder, die man im Gedächtnis behielt: Letissier in der Rolle der geschlechtslosen, sexuell entflammten Allesfresserin Chris, streng gekämmt und gestählt von den zahllosen Konzerten und Tanzperformances, die sie in den Jahren zuvor absolviert hatte. Mit dieser Figur lebte die Künstlerin nicht nur eine sexuelle Aggressivität und Mehrdeutigkeit aus, die bei den meisten männlichen Popstars zur Werkseinstellung gehört. Sie fügte der zuvor bruchlosen Achtzigerinszenierung von Christine And The Queens auch eine weitere Ebene hinzu. Erinnerungen wurden wach an die Hochphase von MTV und die teuren Prestigevideos. Letissier zitierte den Tanzstil von Michael Jackson sowie dessen Sex-als-Machtmittel-Hymne Give In To Me aus dem Jahr 1991. Mit Look und Lust ihrer Chris-Persona verwies sie außerdem auf Madonnas Man-Eater-Jahre, die zwischen 1992 und 1994 die Alben Erotica und Bedtime Stories sowie das Buch Sex und den Erotikthriller Body Of Evidence hervorbrachten.Im Zweifel ohne ZweifelFür La Vita Nuova sollte man das nun im Hinterkopf behalten, weil Letissier nicht den Neuanfang vollzieht, der im Titel (geliehen von Dante) angelegt scheint. Es geht um ein letztes großes Hallo für die Kunstfigur Chris. In den fünf Songs erklingt, gewohnt und gekonnt, Letissiers Kitschpop mit Donnerhall. Selbst einen zurückhaltenden Song wie People, I’ve Been Sad versieht sie mit der Ernsthaftigkeit eines emotionalen Börsencrashs. In La Vita Nuova, einem teilweise auf Italienisch gesungenen Duett mit der New Yorker Indiepopmusikerin Caroline Polachek, ist es nicht der stumpfe Beat, sondern Letissiers effektvolle Schnappatmung im Refrain, die das Stück auf Hitkurs trimmt. In den zugehörigen Choreografien (alle Songs der EP werden im Film betanzt) erkundet ihr Alter Ego noch einmal Grenzgebiete zwischen Sex, Gewalt, Wut und Unterwerfung. Das seltsame Fabelwesen auf dem Dach des Palais Garnier erweist sich nicht als Jäger, sondern als Gejagter in dieser Inszenierung. Am Ende ist es Chris, die mit blutroten Augen und dem topmodernen Haarschnitt eines Balenciaga-Models unter den Kronleuchtern des Opernhauses steht, ausgesaugt und umgeben von leblosen Körpern. Die Macht der Zeichen hat Letissier damit einmal mehr auf ihrer Seite. Was Christine And The Queens heute zum bedeutsamen Popprojekt macht, ist der Kontext, in den die Sängerin ihre Befreiungslieder bettet. Madonna erlebte mit ihren Erotica-Eskapaden der frühen 90er den ersten Knick in einer zuvor makellosen Karrierekurve. Kritiker reagierten hämisch auf den „dirty talk“ der Künstlerin, das Publikum strafte sie mit damals indiskutablen sechs Millionen verkauften Tonträgern ab (True Blue verkaufte sich seit 1986 über 25 Millionen Mal). Wenn heute Momente der Verletzung und Scham in Letissiers Liedern aufblitzen, gleich hinter Refrains über BDSM-Praktiken und andere Formen der sexuellen Einverleibung, dann verweist sie auch auf Erniedrigungen und Selbstzweifel, die ihre Vorbilder ertragen mussten.Indem sie diese Zweifel endgültig abstreift, führt Letissier ihre Chris-Figur zu einem logischen Schlusspunkt. Fordernd, aber empfindsam formuliert sie ihre Vorstellung eines zeitgenössischen Popstars. Die Selbstgewissheit der Protagonistin ist dafür ebenso entscheidend wie die 4/4-Takte des Drumcomputers. Der New York Times hat Héloïse Letissier bereits verraten, dass es ihr immer schwerer falle, die Unterscheidung zwischen Kunstfigur und eigenem Ich aufrechtzuerhalten. Wer diesen Punkt erreicht, hat im Geschäft der Hits und Bilder meistens etwas richtig gemacht.Placeholder infobox-1