Das neue Album von Dagobert dauert 42 Minuten, und die ganze Zeit über wartet man auf ein „Gulp“. Welt ohne Zeit hat der Wahlberliner aus dem Schweizer Kanton Aargau die Platte genannt, es ist seine dritte, und wie schon bei den zweien davor handeln ihre Lieder abwechselnd von ehemals und niemals erfüllter Liebe. Dagobert ist am Ende, anders kennt man ihn gar nicht, und damit ihn noch mehr Leute so kennenlernen, singt er diesmal mit einer Nähe zum Mikrofon, die jeden seiner Seufzer, Atemzüge und gekonnt ausgekosteten Endungskonsonanten hör- und nachfühlbar macht. Oder eben: als hätte er das Mikrofon schon halb verschluckt. Gulp!
Als Dagobert vor sechs Jahren zum ersten Mal mit diesem Programm vorsang, war das in mehrerlei Hinsicht erfrischend. Man wusste nicht, ob seine Schwächen für Kitschkeyboards und Groschenroman-Romantik eine Verarsche waren oder doch echte Schwächen, ob der Typ dem Klischee des aufrechten Leidensmannes nachhing oder es ironisch unterlief, ob er wirklich so drollig war oder nur für drollig gehalten werden wollte. Immer wieder erklärte sich der Sänger in Interviews zum weltgrößten Fan der Scorpions. Dann setzte ihn ein Popmagazin mit Klaus Meine zusammen, und Dagobert war so Starstruck, dass er kaum den Mund aufbekam.
New-Romantics-Oberflächen
Danach aber ging es bergauf. Dagobert kooperierte mit dem deutschen Indie-Establishment (Casper, Drangsal, Get Well Soon), wechselte vom Hamburger Vorzeigelabel für subversive Popmusik (Buback) zum Berliner Vorzeigelabel für subversive Popmusik (Staatsakt) und wurde von der NZZ unter die 50 stilvollsten Schweizer gewählt (die Schwägerin schneidert seine Anzüge). Er ist bald 37 Jahre alt und möchte keine Witzfigur mehr sein. Welt ohne Zeit ist als unzweideutiges Statement gemeint: als Bekenntnis zu einem besseren Schlager.
Viel zu lachen hat das deutscheste aller Liedgüter aktuell nicht: Die Trash-Jahre mit Dieter Thomas Kuhn und Co. sind lange vorbei, Dieter Thomas Heck ist tot, und die erfolgreichsten Vertreter*innen des Genres triezen und stählen ihren Schlager mit beinahe militärischem Drill. Andreas Gabalier singt Kampflieder für den Erhalt von Tracht und Tradition, während Helene Fischer mit immer waghalsigeren und humorloseren Hochdruck-Akrobatik-Shows nach internationaler Herzeigbarkeit strebt.
Dagoberts Schlager will befreit erklingen von jener Piefigkeit, die in der allgemeinen Publikumswahrnehmung ein Lied erst zum Schlager macht. Musikalisch haut das hin: Welt ohne Zeit ist kompetente Kitsch-Musik mit Anleihen beim liebevoll herausgeputzten Oberflächen-Pop der New-Romantics-Bewegung. Jedes Zitat erscheint aufrichtig nachempfunden, jeder Refrain ist ein Griff nach den Sternen. „Die Wärme deiner heiß glühenden Sinnlichkeit / Half mir durch die kalte dunkle Winterzeit“, heißt es an einer Stelle. Schlimmer ginge so eine Zeile nur noch, wenn sie nicht ernst gemeint wäre.
Nimmt man seine Worte für voll, verpufft allerdings die Idee vom besseren Schlager – denn mehr als ein Plädoyer für Zweisamkeit und kleine Brötchen fällt ihm auch nicht ein. „All die Probleme entstehen, weil die Menschen sich niemals zufrieden geben“, lautet der Refrain von In all unseren Leben. Das klingt so naiv, wie guter Pop sein darf, aber auch so genügsam, wie schlechter Schlager schon immer war.
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Welt ohne Zeit Dagobert Staatsakt 2019
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