Sein Buch Hitlers willige Vollstrecker elektrisierte und polarisierte 1996 die hiesige Öffentlichkeit. Daniel Jonah Goldhagen hatte darin die These vertreten, die Mehrheit der Deutschen habe nicht aus Furcht vor Repression, sondern aus innerer Überzeugung den Massenmord der Nazis an den Juden Europas mitgetragen. Drei Jahre danach zieht das in diesen Tagen erscheinende Buch Die Fratze der eigenen Geschichte eine Bilanz der bisherigen, von Goldhagen maßgeblich beeinflußten Debatte zur Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit. Eine Debatte im Übergang zur »Berliner Republik«. Der amerikanische Historiker ist darin mit einem Beitrag vertreten, den wir - dank der freundlichen Genehmigung des Autors - in einer gekürzten Fassung dokumentieren. (*)
In den letzten zwei Jahren hat eine neue Art der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Holocaust eingesetzt, die sich in der beispiellosen, weitverbreiteten öffentliche Diskussion über verschiedene Aspekte der Judenvernichtung abzeichnet. Das alte Paradigma besteht aus abstrakten, gesichtslosen Strukturen und Institutionen (Bürokratie, der überstrapazierte »Terrorapparat«, der vorgeblich gegen die Deutschen gerichtet war, die SS, die NSDAP und die Gaskammern) und aus angeblich unwiderstehlichen Kräften (totalitaristischer Terror, Erfordernisse des Krieges, sozialpsychologischer Druck). Dieses Paradigma löscht die handelnden Menschen aus, leugnet ihre Fähigkeit, sich ein Urteil über ihre Taten zu bilden, spricht ihnen die Fähigkeit ab, moralische Entscheidungen zu treffen. Es ist ahistorisch. Es will glauben machen, dass irgend welche Menschen aus irgend einer geschichtlichen Epoche mit beliebigen Auffassungen von Juden (selbst mit positiven Einstellungen ihnen gegenüber) genauso gehandelt hätten wie die Täter, mit derselben Grausamkeit, derselben Hingabe, demselben mephistophelischen Gelächter. Diese Auffassung wird von der Auffassung in Frage gestellt, dass der Holocaust von Menschen veranstaltet worden ist, die Überzeugungen hatten in Bezug auf das, was sie taten. Überzeugungen, die einem spezifischen historischen Kontext entsprangen. Kurz, diese andere Auffassung geht wohlbegründet davon aus, dass die Menschen, deren Werk der Holocaust war, Entscheidungen darüber trafen, wie sie sich innerhalb der Institutionen verhielten. Der Mensch kommt in der Diskussion endlich zu seinem Recht. Die bis jetzt dominierende Frage: »Was zwang ihn dazu, gegen seinen Willen zu handeln?«, wird ersetzt durch die Frage: »Warum hat er sich entschlossen, so zu handeln, wie er es tat?«
Mächtige Mythen brechen zusammen: die falsche Vorstellung, dass die Schweizer und die Schweden so handelten, wie sie es taten, weil sie von Deutschland bedroht waren; das Trugbild, dass Menschen in den besetzten Ländern nicht mehr getan haben, um den Deutschen entgegenzuarbeiten beziehungsweise sie ihnen nicht weniger bei der Verfolgung der Juden geholfen haben, nur weil sie vor der deutschen Besatzungsmacht Angst hatten; die offizielle Verlautbarung der alliierten Regierungen, sie hätten bei bestem Willen nicht mehr tun können, um die Opfer zu retten; das Märchen, dass diejenigen, die sich an jüdischem Eigentum bereicherten, sich in der Regel nicht darüber bewußt waren, was sie taten; die Falschdarstellung, dass die Täter in der Regel mißbilligten, was sie taten und zu verbrecherischem Verhalten gezwungen werden mussten oder dass sie sich äußerem Druck fügen mussten und dann eben so handelten, wie es ihnen dieser äußere Druck gebot; und die drei damit verbundenen Legenden:
Erstens, dass die Deutschen (trotz Ausnahmen) im allgemeinen nicht wußten, dass ihre Landsleute Juden in großen Massen umbrachten; zweitens, dass sie in großer Mehrheit das Naziregime nicht unterstützten; drittens, dass sie die eliminatorische Verfolgung der Juden nicht befürworteten.
Niemand sollte sich wundern, dass viele Leute, die sich mit derartigen Ansichten getröstet oder die auf der Grundlage solcher Ansichten Karriere gemacht haben und die nun in den mächtigen neuen Infragestellungen gängiger Auffassungen etwas politisch nicht Wünschenswertes oder eine persönliche Bedrohung sehen, von dem Paradigmenwechsel nicht entzückt sind. Ihre Standarderwiderung ist der Angriff, sehr oft auf bissigste und prinzipienloseste Art, auf die Verkünder der unerwünschten Nachrichten - seien es Wissenschaftler oder Institutionen wie das Hamburger Institut für Sozialforschung, das unter Beschuss geriet, weil es die Wanderausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht sponserte, oder der Jüdische Weltkongreß, weil er das vorenthaltene jüdische Gold Schweizer Banken auf die Agenda setzte, oder seien es Zeugen - genauer gesagt - jüdische Überlebende, deren Aussagen für die Anhängerschaft der Mythen immer eine erschütternde Bedrohung gewesen sind. Es wäre nützlich, wenn bestimmte Elementareinsichten, die bisher von dem jetzt bröckelnden Paradigma verdeckt waren, allgemeine Akzeptanz finden würden. Wünschenswert wäre:
Erstens: Die Abschaffung der karikaturhaften Darstellung deutscher Individuen, wonach diese keine Meinung über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns und des Tuns ihrer Landsleute hatten - ein Tun, das sich auch auf die Ermordung von Kindern erstreckte. Was wir wissen müssen, ist, wie sich Ansichten unter den Deutschen verbreiteten, wie diese Ansichten separat oder in Interaktion mit andern Faktoren das Handeln der Deutschen während der kritischen Jahre mitbestimmt haben.
Zweitens: Das Verwerfen der Legende, dass die groß angelegte Ausrottung der Juden ohne Wissen der deutschen Öffentlichkeit vonstatten ging. Selbst die Deutschen fangen an, aufrichtiger mit dieser Gegebenheit umzugehen: 27 Prozent von denen, die 1945 nicht jünger als 14 Jahre alt waren, geben heute zu, dass sie schon während der Judenvernichtung wußten, was sich abspielte. Umfrageexperten der Deutschen Presseagentur (DPA) vermuten, dass die eigentliche Zahl derer, die von der Judenvernichtung etwas wussten, in Wirklichkeit noch viel größer war. Doch in der Flut von Artikeln, die seitdem über den Holocaust publiziert worden sind, bin ich auf keine Erwähnung der obigen Ergebnisse gestoßen - obwohl die Umfrageergebnisse bekanntgemacht wurden, und auch DPA darüber berichtete. Sie sind wohl trotzdem ignoriert worden, weil es einen zentralen Bestandteil des konventionellen Paradigmas sprengen würde.
Drittens, das Eingeständnis, dass Deutsche, die nicht Angehörige ganz bestimmter verfolgter Gruppen waren (Juden; Homosexuelle; Sinti und Roma; geistig Behinderte; führende Mitglieder der KPD und SPD), nicht so terrorisiert wurden, wie das Totalitarismus-Modell glauben machen will. Die weit verbreitete Unzufriedenheit und Opposition, die Deutsche in Bezug auf viele Maßnahmen des Regimes zum Ausdruck brachten, und das Maß, in dem das Regime diesem Druck nachgab, geben Anlaß zu diesem Schluss. Folglich muss ein neues Verständnis des Verhältnisses zwischen der Staatsmacht, der Politik des Regimes und der öffentlichen Zustimmung erarbeitet werden. Unerläßlich wird die vergleichende Frage, warum Deutsche Unzufriedenheit und Opposition in unterschiedlichem Ausmaß in Bezug auf verschiedene Maßnahmen des Regimes zum Ausdruck brachten, aber keine grundsätzliche Gegnerschaft zu der eliminatorischen Verfolgung der Juden. Insgesamt müssen alle Modelle überdacht werden, die davon ausgehen, dass unwiderstehliche äußere Kräfte Menschen - Deutsche, Franzosen, Polen, Schweizer und die Alliierten - zwangen so zu handeln, wie sie es taten. Wenn die überwältigende Mehrheit der Deutschen es wirklich gewollt hätte, dann hätte Hitler seinen Plan für die radikale eliminatorische Verfolgung der Juden niemals in die Tat umsetzen können.
Viertens, Einführung einer vergleichenden Sichtweise auf das Phänomen Genozid, damit diejenigen, die sich wissenschaftlich mit dem Holocaust beschäftigen, nicht mit Methoden arbeiten und kausale Behauptungen aufstellen, die nicht vereinbar sind mit dem, was sie über analoge Phänomene wissen. Alle verfügbaren Quellen (zeitgenössische Dokumente, die Aussagen der Täter, Opfer und Zuschauer), die im Lichte klar artikulierter standardisierter Kriterien der Sozialwissenschaft nicht fragwürdig erscheinen, müssen herangezogen werden. Wenn beispielsweise Aussagen jüdischer Überlebender verworfen werden, so muss das aufgrund von wissenschaftlichen Standards erfolgen, die auch im Falle von Zeugen und Opfern aus dem Volk der Tutsi, von Bosniern, Kambodschanern, Armeniern, Opfern des Gulag oder von versklavten Schwarzen der amerikanischen Südstaaten Bestand haben.
Fünftens, das Eingeständnis, dass der Holocaust sowohl universale als auch einzigartige Element enthält. Sein universaler Aspekt ist, dass alle Menschen dazu fähig sind, andere Gruppen so sehr zu entmenschlichen, dass der Haß auf die so Ausgegrenzten und Erniedrigten einen Genozid heraufbeschwören kann. Sein besonderer Aspekt, dass derartige Ansichten nicht in jeder Gesellschaft in gleichem Maße und unterschiedslos in Bezug auf jegliche Gruppe entstehen; sollten sie es aber doch tun, dann hat nicht jede Gesellschaft einen Staat, der seine hasserfüllten Bürger dazu anspornt, eine massenhafte Vernichtung zu veranstalten. Die universale Fähigkeit, Hass zu verspüren, heißt noch lange nicht, dass alle Menschen es zulassen, sich von dieser Leidenschaft beherrschen zu lassen. Oder dass sie alle anderen auf die gleiche Art und Weise hassen oder dass alle Formen des Hasses Menschen dazu bringen können, ihre Hass objekte auf die gleiche Art und Weise zu behandeln. Real existierender Hass ist, im Gegensatz zu der Fähigkeit, Hass zu empfinden, ein soziales Konstrukt und von historischer Einzigartigkeit.
Der Holocaust liegt nicht »jenseits des menschlichen Auffassungsvermögens«. Im Prinzip ist er so erklärbar wie jeder andere Völkermord. Niemand behauptet, dass der Völkermord in Ruanda oder das gigantische Massaker in Kambodscha unerklärbar seien. Was so viele Leute einfach nicht anerkennen wollen, ist, dass die Opfer des Holocaust uns sehr viel über ihre Peiniger zu erzählen haben (nicht weniger als die Opfer in Ruanda und Bosnien über die ihren); und dass die deutschen Täter in gewisser Weise auch so waren wie andere Täter, die in Massenmorden mitgemetzelt haben: in überwältigender Mehrheit waren eben auch sie willige Vollstrecker. Dass Leute diese Fakten bezüglich nicht-jüdischer Opfer von Völkermorden und bezüglich afrikanischer oder asiatischer Täter anstandslos akzeptieren, nicht aber in Bezug auf Juden - beziehungsweise auf »zivilisierte« weiße christliche Europäer - ist beunruhigend. Würde jemand auch nur einen Augenblick in Erwägung ziehen, dass türkische, serbische oder Hutu-Täter glaubten, dass das Niedermetzeln von Armeniern, Muslimen oder Tutsi nicht rechtens war? Würde irgend jemand glauben, dass die Aussagen dieser Genozid-Opfer uns keine Auskunft geben könnten über die Beschaffenheit der jeweiligen Völkermorde, die Einstellung der Täter mit eingeschlossen?
Wie immer mehr Deutsche mittlerweile begriffen haben, kann man sich eingestehen, dass viele Deutsche vor und während der Nazizeit bösartige Antisemiten waren, dass viele von ihnen die brutale Verfolgung der Juden unterstützten und dass die Judenmörder aus den Reihen der ganz gewöhnlichen Deutschen kamen, ohne dass das auch eine Anklage jener Deutscher, die sich den üblichen Normen und Handlungsweisen jener widersetzten, oder eine Anklage des heutigen Deutschlands nach sich ziehen muss. Dass scheint so selbstverständlich zu sein, dass nur deshalb darüber geredet werden muss, weil Kommentatoren beharrlich zwei Trugschlüsse ziehen: Sie tun so, als ob die Beweisführung, wonach die Verbreitung individueller Schuld an Verbrechen in der NS-Zeit viel größer war als zuvor angenommen, einer Kollektivschuld-These gleichkäme. Auch tun sie so, als ob eine ungeschminkte Rede über die Deutschen von damals das heutige Deutschland diffamiere. Diejenigen, die diesem Irrtum aufsitzen, sind selbst Menschen, denen individuelle Verantwortung fremd ist und die an die unhaltbare Vorstellung eines unveränderlichen »Nationalcharakters« gekettet sind oder sie glauben an eine Art vererbbarer Kollektivschuld. Deutsche der Nazizeit sollten nach denselben juristischen und moralischen Maßstäben beurteilt werden wie Menschen in unserer Gesellschaft. Die Bundesrepublik Deutschland sollte, wie alle anderen Länder auch, im Lichte ihres eigenen Charakters, ihrer eigenen Praktiken, Leistungen und Mängel beurteilt werden und nicht gemäß einer Zeit in Deutschlands Geschichte, die jetzt über 50 Jahre zurückliegt.
Viel von dem, was ich schreibe, findet ein Echo in einem privaten Brief aus dem Jahre 1946, in dem ein Deutscher einem Priester schonungslos seine Meinung sagte:
»Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen die Bischöfe und der Klerus große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. Richtig ist, dass nachher vielleicht nicht mehr viel zu machen war. Die Schuld liegt früher. Das deutsche Volk - auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil - sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung (...) gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld. Im übrigen hat man aber auch gewusst - wenn man auch die Vorgänge in den Lagern nicht in ihrem ganzen Ausmaß gekannt hat -, dass die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze mit Füßen getreten wurden, dass in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden, dass die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Russ land mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit ... «
Der Verfasser des Briefes war kein geringerer als Konrad Adenauer, der mehr als irgend einer dazu beitrug, Deutsche in die Gemeinschaft der Völker zurückzuführen. Niemand würde Adenauer unterstellen, jeden Deutschen verdammt zu haben (obwohl er von »den Deutschen« schrieb) oder als Deutschenhasser gesagt zu haben, die Deutschen würden sich nicht ändern, so dass sie ewig Träger jener Ansichten blieben, die sie dazu verführt hatten, sich dem Nationalsozialismus zu verschreiben. So stellt sich die Frage, warum heute so mancher diejenigen, die Adenauers schonungslose Wahrheit ansprechen, mit einem Verbot belegen möchte und ihnen zuschreibt, was sie und Adenauer niemals gemeint haben.
Jeder, der das heutige Deutschland kennt, das Deutschland Adenauers, weiß, dass dieses neue Deutschland sich auf bemerkenswerte Weise von Nazideutschland unterscheidet. In der Tat, erst dann, wenn man anerkennt, wie tief Deutschland gesunken war, statt sich vorzumachen, es sei unglücklicherweise ganz unverschuldet irgendwie in die Klauen einer brutalen, mörderischen Diktatur geraten, kann man würdigen, was für enorme Leistungen Deutschland nach 1945 vollbracht hat. Wenn wir leugnen, wie Deutschland wirklich war, werden wir nie ganz verstehen, wie sehr sich die Deutschen angestrengt haben und wieviel Gutes nach dem Krieg entstanden ist. Das konventionelle wissenschaftliche Paradigma, das die Entscheidungsfähigkeit der Protagonisten verleugnet und mit dieser Verleugnung die Wahrheit verfälscht, verfälscht auch die Gegenwart.
(*) Überschrift, Untertitel und Unterteilung in Hauptabsätze von der Redaktion.
Jürgen Elsässer/Andrei S. Markovits (Hg.); Die Fratze der eigenen Geschichte, Von der Goldhagen-Debatte zum Jugoslawien-Krieg, Elefanten Press Berlin. 29,90 DM.
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