Wir sind im Helmut-Newton-Museum verabredet, das sich direkt hinter dem Zoo im ehemaligen Landwehrkasino befindet. Als ich hereinkomme, sitzt sie auf einer der Bänke im Foyer. Sie liest in einem Buch und sieht mich erst, als ich vor ihr stehe.
Ich deute eine leichte Verbeugung an.
"Madam, I´m Adam", sage ich.
Sie erhebt sich von ihrem Platz, gibt mir mit ernster Miene die Hand und antwortet: "Sir, I´m Iris."
Sie ist keine Engländerin, und ich bin kein Amerikaner, aber ich heiße wirklich Adam, und ihr Name ist... genau: Iris. Es ist eine Wortspielerei, ein kleiner Tick, den wir pflegen, seit wir von der Existenz unserer Vornamen wissen.
Und das ist noch nicht lange so. Genaugenommen kennen wir uns erst seit fünf Wochen. Wir haben uns in einem Waschsalon kennen gelernt. Sie ist Comiczeichnerin, Kassiererin bei Kaiser´s und Kunststudentin. Alles in einem. Ich bin ein bisschen in sie verliebt. Ich glaube, es sind ihre Augen: grüne, freundliche Magneten.
Sich hier zu treffen ist ihr Vorschlag gewesen. Donnerstags hat das Museum bis zehn Uhr abends offen und kostet keinen Eintritt.
Als erstes schauen wir uns den Helmut-Newton-Schrein an, der sich im Erdgeschoss befindet: Handschellen, High Heels, Schamhaarperücken, Photoapparate, falsche Brüste. Ein Monokel. Ein Geländewagen. Eine Nachbildung seines Arbeitszimmers. Außerdem fünf Schaufensterpuppen mit fünf verschiedenen Outfits, die er zu fünf unterschiedlichen Anlässen getragen hat. Und eine Frau aus Plastik, die einen ewigen Handstand an der Wand macht.
Aus dieser wilden Wunderkammer - Iris: "Ein modernes Pharaonengrab, nur die Mumie fehlt" - gehen wir die breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Wir betreten einen Raum, in dem Bilder von David La Chapelle ausgestellt sind. Ich muss erst einmal tief durchatmen. Eine Menge nackter Frauen befinden sich hier. Ich überlege kurz, ob ich mich unwohl fühlen soll, entscheide mich dann aber dagegen.
Wir gehen andächtig von einem Bild zum nächsten. Manchmal macht Iris eine Bemerkung zu den Farben oder der Bildkomposition. Es ist nicht viel los, und während wir so durch den Raum gehen, stellt sich bei mir ein seltsamer Effekt ein. Iris wirkt zwischen dieser ganzen nackten Haut in ihrer Kleidung ziemlich aufregend und exotisch. Ja, sie wirkt im wahrsten Sinne des Wortes sehr anziehend.
"Nie solo sein", sagt sie plötzlich und seufzt. Auch so ein Vorwärts-rückwärts-Satz, der sich von links und rechts lesen lässt wie unsere Begrüßung. Ob das Absicht war?
Ich verstehe ihn jedenfalls als Ermutigung.
"Du kannst mich küssen, wenn du magst", sage ich. Die Worte schlüpfen problemlos aus meinem Mund. Ich bin selbst ein wenig erstaunt.
Sie sieht mich überrascht an. "Das müsste eigentlich ich sagen, oder?"
"Ich würde mich zumindest nicht wehren", antworte ich.
Sie schmunzelt. "Vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück. Ich werde es mir jedenfalls merken."
Wir gehen weiter durch die Ausstellung. Es gibt noch Bilder von James Nachtwey, einem Kriegsphotographen, Männerportraits von Helmut Newton und Photoserien aus einem automatischen Photostudio, das Newton Anfang der Siebziger erfunden hat.
Und dann haben wir eigentlich alles gesehen. Bis auf das oberste Stockwerk. Aber für heute reicht es mir. Durch meinen Kopf schwirren jetzt schon viel zu viele Bilder. Wir stehen etwas unschlüssig herum.
"Lass uns noch eine Weile bleiben", sagt sie. "Draußen regnet es bestimmt in Strömen."
Wir bleiben. Wir setzen uns auf einen der schwarzen Sitzwürfel im ersten Stock. Es wäre wirklich schön, wenn sie mich küssen würde, denke ich, behalte diesen Wunsch aber für mich. Ich möchte nicht aufdringlich sein.
"Achtziger-Jahre-Brüste", sagt sie und reißt mich aus meinen Gedanken. Sie zeigt auf die Big Nudes.
Ich folge ihrem Blick. Eins, zwei, drei, vier Frauen zähle ich auf dem Bild. Vier Frauen, acht Brüste. Achtziger-Jahre-Brüste.
"Achtziger-Jahre-Brüste", sage ich laut, weil ich wissen will, wie es sich anfühlt, diese Wörter nicht nur zu hören, sondern auch auszusprechen.
"Achtziger-Jahre-Brüste", sagt sie.
"Achtziger-Jahre-Brüste", sage ich. Die Worte kitzeln ein wenig im Mund, aber es ist nicht unangenehm.
Wir wiederholen noch ein paar Mal den Satz, spielen ihn uns zu wie einen Pingpongball. Es ist sehr schön, ihn abwechselnd zu hören und zu sprechen. Beinahe eine Art Mantra. Schließlich verstummen wir. Sie hat nach meiner Hand gegriffen. Ihre Hand ist warm, und ich kann ihren Pulsschlag fühlen. Wir werden ganz still. Und sind in den Anblick schwarzweißer Brüste aus den achtziger Jahren versunken.
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