Handschuhe

Berliner Abende Der erste Handschuh lag auf dem Fensterbrett einer Parterrewohnung in der Esmarchstraße. Er war rot und aus Wolle und hatte genau fünf Finger. ...

Der erste Handschuh lag auf dem Fensterbrett einer Parterrewohnung in der Esmarchstraße. Er war rot und aus Wolle und hatte genau fünf Finger.

"Siehst du das?", fragte Johanna und zeigte darauf.

"Ja", sagte ich. "Ein Handschuh. Warum?"

"Das ist eine Wintergeschichte, die sich jedes Jahr wiederholt", sagte sie. "Sie ist Jahrhunderte alt, und es ist eine traurige Geschichte."

Ich sah sie verständnislos an. Anstatt es mir zu erklären, holte sie ihre Kamera aus der Tasche und machte ein Foto. Dann kramte sie ihr Notizbuch heraus und schrieb: 14. Dezember 2008, 18:21 Uhr, Esmarchstr. 19. Ein Fensterbrett.

Wir gingen hinunter zur Greifswalder Straße und stiegen dort in die Straßenbahnlinie M4. Auf dem Fahrkartenautomaten lag ein grüner Handschuh ohne Fingerkuppen. Johanna fotografierte auch ihn. Wir fuhren vier Stationen bis zum Alexanderplatz, wo wir wieder ausstiegen. Der ganze Platz war voller Menschen, die zwischen Kaufhof, dem Weihnachtsmarkt und Alexa herumliefen, Geschenke kauften, Glühwein tranken und nach Erlösung suchten.

Johanna stieß mich an und deutete auf einen Kinderhandschuh, einen hellblauen Fäustling, der auf dem Boden lag. Die Leute traten auf ihn, ohne ihn zu bemerken. Das Hellblau war kaum noch zu erkennen und der Fäustling hatte bereits das undefinierbare trostlose Graubraun des Straßendrecks angenommen. Johanna drückte auf den Auslöser ihrer Kamera. Der Blitz flammte auf und erhellte den Handschuh wie ein Unfallopfer. Es war ein ziemliches trauriges Bild. Langsam begann ich zu verstehen, was sie meinte.

Wir schlenderten an der Weltzeituhr vorbei, unter der S-Bahnbrücke hindurch und am Fernsehturm entlang. Am Weihnachtsmarkt vor dem Roten Rathaus betrachteten wir das lichterblinkende Riesenrad, das sich langsam drehte. Ich kaufte für jeden eine Bratwurst, drückte jeweils eine Linie Senf und Ketchup darauf und stellte mich zu Johanna an einen Stehtisch. Auf dem Tisch neben uns lagen gleich zwei verlassene Handschuhe. Ein schlanker schmalgliedriger Frauenhandschuh und ein brauner Herrenhandschuh aus Leder. Es sah aus wie das Ende einer Beziehung.

Wir aßen schweigend unsere Bratwurst.

"Das ist schrecklich", sagte ich schließlich.

Johanna nickte. "Seit dem 1. Dezember habe ich schon 67 Handschuhe fotografiert. Die von heute nicht eingerechnet. Ich suche nicht nach ihnen. Ich habe einfach nur meine Kamera dabei." Sie machte eine kurze Pause. "Es gibt wahrscheinlich Hunderte von Handschuhhalbwaisen in Berlin."

"Und was hast du mit all den Fotos vor?", fragte ich.

"Ich richte im Internet ein Erinnerungsportal ein", sagte sie. "Ich werde die Handschuhe nach Kategorien ordnen und auf einem Stadtplan die Stellen markieren, wo ich sie fotografiert habe." Johanna sah mich ernst an. Und sie meinte es ernst.

Wir liefen ein Stück weiter, dort wo der Palast der Republik gestanden hatte, war jetzt einfach Nacht und eine Menge Platz. Es war wirklich eine große Wintertragödie, über die sich niemand Gedanken machte. Ich sah auf meine Hände, die in schwarzen Wollhandschuhen steckten und verschränkte sie zärtlich ineinander.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden