In den Himmel steigen

Alltag Drachen steigen lassen ist ein Jungentraum. Aber es gibt noch schönere Träume

Am 9. Oktober 1986 begannen bei uns in der Schule die Herbstferien und mein Vater hatte sich extra ein paar Tage freigenommen. Er hatte Holzleisten, Leim, bunte Plastikfolien und Schnur gekauft, um mit uns einen Drachen zu bauen. Wir setzten uns mit wichtigen Gesichtern und den ganzen Sachen an den Küchentisch und funktionierten ihn kurzerhand für Stunden zu einem Basteltisch um. Meine Mutter kümmerte sich um die Plastikfolien, Papa und ich sägten die Leisten zurecht, und mein kleiner Bruder Alexander bastelte aus Mamas alten Wollresten einen Schweif für den Drachen.

Es war aufregend, sich vorzustellen, dass der Drache morgen in den Himmel steigen würde. Papa hatte eine Schnur gekauft, die sich auf bis zu 70 Meter abwickeln ließ. 70 Meter! Das ist schon fast Wolkenhöhe!

Als wir den Drachen fertig hatten, wären Alexander und ich am liebsten sofort mit ihm nach draußen gegangen, aber unser Vater meinte, dass der Leim über Nacht trocknen müsse. Er hatte ja Recht damit, aber es war gemein, noch bis morgen warten zu müssen.

Um acht Uhr sahen wir uns gemeinsam die Tagesschau an, um zu wissen, wie das Wetter morgen werden würde. Ein paar Wolken, aber kein Regen und leichter bis mäßiger Wind aus Nordost. Das hörte sich gut an.


Am 10. Oktober 1986 gingen wir direkt nach dem Frühstück los. Mama machte noch eine Proviantbox mit belegten Broten, Äpfeln, zwei Tafeln Schokolade und Zitronenbonbons fertig und eine Thermoskanne mit heißem Kaba. Alexander und ich nahmen unsere Fahrradhandschuhe mit, damit uns die Schnur beim Abrollen nicht in die Haut schneiden konnte. Wir waren also ziemlich professionell ausgerüstet, und es war ein richtig schöner Herbsttag mit klarem Sonnenschein und leichtem Wind. Auf den Feldern sah man die langsam dahingleitenden Schattenteppiche, die die vorbeiziehenden Wolken warfen.

Unser Ziel war die große Wiese zwischen den Äckern von Berningers und der Apfelplantage von Kilbs. Sie war leicht abschüssig, und das Gras dort war grün und weich wie ein langhaariger Teppich. Man konnte auf dieser Wiese endlos in eine Richtung laufen, ohne an ein Ende zu kommen. Und die Apfelbäume von Kilbs waren so weit entfernt, dass man keine Angst haben musste, dass sich der Drachen in irgendwelchen Ästen oder Baumkronen verfing. Es gab in der Nähe auch keine Hochspannungsleitung. Zum Glück. Hochspannungsleitungen waren nämlich das Allergefährlichste beim Drachensteigen und eine Schauergeschichte, vor der jeder Angst hatte, war, dass der Drachen in einem der Drähte hängen blieb und man einen elektrischen Schlag bekam und starb.

Die Wiese war also ein ziemlich guter Platz zum Drachensteigen. Deshalb waren wir auch nicht die Einzigen, aber es war ja genug Platz für alle da. Alexander wollte unbedingt der Erste sein, also ließ ich ihm den Vortritt. Er rannte mit dem Drachen über die halbe Wiese, aber anstatt in den Himmel zu steigen, hoppelte der Drachen nur hinter ihm durch das Gras wie ein aufgeregter Hund, der gerade eine Kaninchenfährte entdeckt hat.

Papa rief: "Du musst auf den Drachen schauen! Und probier mal, nicht gegen den Wind zu laufen!"

Alexander versuchte, Papas Ratschläge zu beherzigen, aber es klappte trotzdem nicht. Wir wechselten, doch ich bekam den Drachen auch nicht nach oben, dann lief ich nochmal und nochmal mit dem hoppelnenden Drachenund schließlich gab ich es auf. Ich war unendlich enttäuscht.

"Jetzt bist du dran", sagte ich zu Papa und drückte ihm die Spule mit der Schnur in die Hand. Ich stellte mich zu Mama und Alexander, und dann zählten wir laut: "Eins, zwei uuund ... drei!"

Papa startete aus halbgebückter Position wie ein Staffelholzläufer. Wir schauten ihm nach, wie er über die maulwurfshügelige Wiese rannte. Und es gelang ihm tatsächlich, den Drachen in die Luft zu bekommen! Wir sahen gebannt zu, wie er langsam nach oben stieg. Doch plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch, der Drachen machte einen unerwarteten Schlenker und sackte zurück auf die Erde.

Papa war in jemanden hineingerannt und nun kugelten beide über die Wiese.

"Habt ihr euch wehgetan?", rief Mama. "Alles in Ordnung?", fragte ich. Und Alexander brüllte: "Der Drachen war schon mindestens zehn Meter hoch in der Luft!"

Wir liefen zu den beiden hinüber, die dabei waren, sich wieder aufzurappeln.

"Bei mir ist alles ok", sagte Papa. Er hielt noch immer die Spule mit der Schnur in der Hand. Der Drachen lag ein paar Meter weiter entfernt im Gras. Er sah das Mädchen an, mit dem er zusammengeprallt war. "Und bei dir?"

"Bei mir ist auch noch alles dran", antwortete sie und klopfte ein paar Grashalme von ihrer Jacke. "Hab mich nur erschreckt."

"Tut mir wirklich Leid", sagte Papa. "Ich habe nur auf den Drachen geschaut. Ich hätte besser mal nach vorne schauen sollen."

"Nicht so schlimm", sagte sie und stand auf. "Ich habe auch nach oben geschaut, sonst hätte ich Ihnen ja auch ausweichen können."

Alexander lief zu unserem Drachen, inspizierte ihn und bemerkte: "Ein Glück, er ist heil geblieben!"

Das Mädchen lachte und ich lachte auch, und dann sahen wir uns beide an, und sie hatte ein wirklich hübsches Gesicht.

Papa startete einen neuen Versuch. Diesmal schaffte er es, den Drachen in die Luft zu bringen, ohne jemanden umzurennen. Alexander war ganz aufgeregt und glücklich, als Papa ihm die Schnur zum Lenken gab, auch wenn der Drachen kurz darauf abstürzte. Aber ich war in dem Moment ehrlich gesagt nicht mehr richtig bei der Sache, weil ich mich mit Susanne unterhielt, die neben mir stehengeblieben war.


Der 11. Oktober 1986 war ein Samstag. Es war ein schrecklich langweiliger Tag. Es regnete und ich saß in meinem Zimmer und die Regentropfen auf meinem Dachfenster klangen, als würden sie sich in einer Geheimsprache miteinander unterhalten. Wir spielten Gesellschaftsspiele. Mensch-ärgere-dich-nicht, Rommé, Vier gewinnt, Autoquartett und Mühle. Nebenbei hörten wir uns im Radio die Bundesligakonferenz an. Die armen Homburger verloren 5:0 in Gladbach. Immerhin hatte Frankfurt gegen die Bayern ein Unentschieden rausgeholt. Abends aßen wir im Wohnzimmer zu Abendbrot und sahen uns in der Sportschau die Tore an.

Danach habe ich Susanne angerufen. Ich hatte den ganzen Tag daran gedacht und überlegt, ob ich es machen soll oder nicht, und nach der Sportschau und dem Abendbrot habe ich es einfach getan. Zum Glück haben wir eine lange Telefonschnur, sodass ich mich mit dem Telefon, das eigentlich im Flur steht, in Mamas Arbeitszimmer verkriechen konnte und meine Ruhe hatte. Mein Herz hat beim Wählen ziemlich gepuckert, und es hat in der Leitung geknistert und sehr lange getutet, und plötzlich war Susanne am Apparat und ich war völlig überrumpelt, weil ich fest damit gerechnet hatte, dass sich ihre Mutter oder ihr Vater melden würde. Aber es war wirklich schön, ihre Stimme zu hören.


Am 12. Oktober gingen Mama und Papa mit Alexander wieder zum Drachensteigen auf die Wiese. Der Himmel war zwar bewölkt und der Boden noch nass, aber es regnete nicht mehr. Sie wunderten sich, warum ich nicht mitkommen wollte, vor allem Alexander verstand es nicht. Ich habe gesagt, dass ich zu Felix gehe, aber in Wirklichkeit war ich mit Susanne verabredet. Sie mussten ja nicht alles wissen. Obwohl ich glaubte, Mama ahnte etwas. Sie sah mich nämlich mit so einem ganz bestimmten Lächeln an und sagte: "Felix, der Glückliche. Dann bestell ihm mal einen schönen Gruß."

Ich habe mich mit Susanne am Bushäuschen am Lenzhahner Weg getroffen. Wir sind erst ein wenig zwischen den Garagen bei den Hochhäusern herumgelaufen, und dann sind wir zum Spielplatz gegangen. Wir haben uns jeder auf eine Schaukel gesetzt und ganz langsam und im selben Rhythmus zu schaukeln begonnen. Keiner von uns hat etwas gesagt, aber wir waren uns plötzlich so nah, als ob wir uns umarmen würden. Irgendwie habe ich gespürt, dass sie in diesem Moment genau dasselbe fühlte wie ich. Wir fingen an höher zu schaukeln und höher und schneller und immer weiter. Wir schaukelten so lange, bis wir nicht mehr konnten, bis uns so schwindlig war, dass wir aufhören mussten, und uns von den Schaukeln direkt auf den Boden kippten, und alles schwankte und drehte und bewegte sich, und wir lachten und ich hatte das Gefühl, nach oben, direkt in den Himmel hineinzufallen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden