Literatur und Lippenstift

Berliner Abende Seit ungefähr fünf Jahren treffen wir uns in unregelmäßigen Abständen auf ein Bier, einen Milchkaffee oder einen Teller Gnocchi mit Basilikumbutter ...

Seit ungefähr fünf Jahren treffen wir uns in unregelmäßigen Abständen auf ein Bier, einen Milchkaffee oder einen Teller Gnocchi mit Basilikumbutter im Schwarzen Café. Es ist erstaunlich, dass wir das noch immer tun, denn auf den ersten Blick verbindet uns nicht viel. Wir haben eine Zeitlang zusammen als Empfangssekretärinnen in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet. Monika mit auffallend lackierten Fingernägeln, experimentellem Lidstrich und Mut zu viel Make-Up. Ich hatte mit Kosmetikartikeln nicht so viel am Hut. Ich war genau genommen auch nicht Empfangssekretärin, sondern nur eine Teilzeitkraft und außerdem Student. Nach allen Gesetzen der Logik hätten wir eigentlich nicht viel miteinander anfangen können. Wir hatten völlig verschiedene Vorstellungen vom Leben und haben sie immer noch, aber trotzdem hatten wir damals eine ziemlich gute Zeit miteinander. Wir wurden, was keiner von uns erwartet hätte, als wir uns das erste Mal sahen, auf eine sehr spezielle Art Freunde.

"Polierst du gerade deine Fingernägel?", frage ich.

Sie nickt, ohne aufzusehen.

"Und wie gefällt dir Stiller?", frage ich.

"Immerhin, ich bin schon auf Seite 184", sagt Monika und sieht mich an. "Das ist schon ein merkwürdiges Buch, das du mir da gegeben hast. Ich kann immer nur ganz wenige Seiten lesen. Es ist wie Vollkornbrot. Weißt du, was ich meine?"

"Ich glaube ja", sage ich. "Man kann es nicht einfach so verschlingen, stimmt´s?"

"Genau. Man hat ganz schön daran zu kauen. Es steht viel mehr auf einer Seite als nur die gedruckten Buchstaben. Aber es gefällt mir. Ich hätte nicht gedacht, dass mir so ein langsames Buch gefallen würde."

Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtet zufrieden ihre Fingernägel.

"Sag mal, hat Johanna denn der Lippenstift gefallen?", wechselt sie das Thema.

"Sehr", sage ich. "Sie war ganz gerührt und erstaunt. Sie sagte, ich sei der erste Mann, der ihr einen Lippenstift geschenkt hätte, und dann auch noch einen, der ihr gefalle."

"Die Farbe passt aber auch genau zu ihren Augen und den Haaren."

"Ich würde so etwas nie sehen", sage ich.

"Dafür hast du ja mich." Monika nimmt etwas Zucker zwischen Daumen und Zeigefinger und lässt ihn in die Kerze rieseln.

In meiner zweiten Arbeitswoche in der Kanzlei waren wir das erste Mal hier gewesen. Wir hatten Überstunden gemacht, uns über den Chef geärgert und mussten beide noch ein wenig Dampf ablassen. Aus einem kleinen Feierabendtrunk wurden drei Cuba Libre, ein Mojito, vier Gläser Weißwein und ein ziemlich lustiges Gespräch über Banddiktate, Hochsteckfrisuren und Literatur. Und Monika kam mit jedem Mal begeisterter von der Toilette wieder. "Dieses Licht", sagte sie. "Phantastisch!"

Mittlerweile haben wir uns zu fast allen möglichen Tageszeiten im Schwarzen Café getroffen. Sonntagmorgens zum Frühstücken, in Monikas Mittagspause auf einen schnellen Kaffee, abends vor oder nach einem Kinobesuch. Aus genau diesem Grund mögen wir es so gern. Egal, zu welcher Uhrzeit und an welchem Tag, es hat immer offen. So wie heute: Früher Samstagabend, kurz nach halb sieben.

Vor zwei Stunden war ich das erste Mal in meinem Leben in einem Nagelstudio. Monika hat sich dort lauter kleine Spiegel auf die Fingernägel kleben lassen. Jetzt sitzen wir hier, unterhalten uns über Max Frisch und Lippenstifte, und Monika bestaunt wie ein kleines Kind ihre spiegelnden Fingernägel.

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