Muezzin und Kirchenglocken

Osterbefremden Was ist merkwürdiger? Syrische Initiationsriten, eierlegende Hasen oder die Tatsache, dass wir in der Fastenzeit dicker werden? Betrachtungen zwischen Istanbul und Berlin

Deshalb habe ich heute Morgen den Kapuzenpulli vergessen, den ich mir auf dem Basar gekauft hatte – ich habe ihn vergessen, weil der Muezzin zum Morgengebet rief, weil ich ihm zuhörte und daran dachte, dass ich ihn nun drei Wochen nicht mehr hören würde. Und dann war ich spät dran, wie immer, wenn ich zum Flughafen muss, und weil ich mich beeilen musste, blieb der Kapuzenpulli allein auf dem Stuhl in der Küche hängen. So ist das immer. Irgendetwas lasse ich immer zurück.

Als das Flugzeug in die Luft steigt, sehe ich unter uns das Marmarameer, die Prinzeninseln, den Bosporus, und die Stadt, die sich an seinen Ufern ausbreitet. Ob man beim Freitagsgebet von hier oben die Gläubigen sehen kann? Beim Freitagsgebet quellen die Moscheen derart über, dass diejenigen, die drinnen keinen Platz mehr finden, ihren Teppich draußen ausrollen, auf den Stufen oder auf dem Bürgersteig. Ein Anblick, an den ich mich immer noch nicht gewöhnt habe: Wie sie dort knien und beten und der Stimme des Imam lauschen, die aus kleinen Lautsprechern zu ihnen spricht. Und um sie herum rauscht der Verkehr und das Geschäftsleben geht weiter, aber sie sind ganz bei sich und lassen sich von nichts und niemandem ablenken.

„Du bist wieder da“, sagt Şenay, die mich mit Marian, ihrem Sohn, am Flughafen Tegel abholt. Sie spielt offizielles Begrüßungskomitee, weil Marian den Flughafen genauso spannend wie den Wilden Westen findet und später einmal Pilot oder Cowboy werden möchte.

Zebramuster auf Asphalt

„Genau drei Wochen“, sage ich. Ich gehe in die Hocke. „Hallo Marian. Merhaba tatlım.“ Ich lege ihm ein kleines aufziehbares Küken in die Hand, das ich bei einem Straßenhändler in Eminönü gekauft habe.

Er sagt „danke“, aber er sieht ein wenig enttäuscht aus. Ein Flugzeug oder ein Cowboy wären als Geschenk wahrscheinlich besser angekommen.

Auf der Fahrt in die Stadt zählt Marian rote Ampeln und ich Zebrastreifen, die hier tatsächlich eine Funktion haben und nicht einfach nur ein seltsames Muster auf der Straße sind. Şenay hat das Radio angestellt. Ich kann alles verstehen, was die Moderatorin sagt, bin mir aber nicht sicher, ob das ein Vorteil ist. Aber ich freue mich, als wir durch den Wedding fahren, und ich die türkischen Geschäftsschilder entziffern kann. Ein paar von ihnen lese ich Şenay und Marian laut vor. Mısır Çarşısı, Hamsi Tava, Boğaziçi, İçkisiz Aile Salonu. Ägypten-Basar, Fischteller, Familiengastronomie.

Wenn man längere Zeit fort war und zurückkommt, ist es am ersten Tag, als reise man als Tourist durch die eigene Stadt. Ich sehe aus dem Autofenster wie aus einem Städtereisen-Bus, und es sind doch lauter alte Bekannte, die da am Straßenrand stehen. Berliner Fassaden und Backsteinkirchen. Die Glocken läuten gerade, ein paar Gläubige treten durch das Portal, und ich erwische mich dabei, wie ich meine Augen nicht von ihnen losreißen kann. Menschen, die sich in überdimensionalen Backsteingebäuden versammeln, während ein archaisches Instrument aus Bronze einen warmen und zugleich metallischen Klang verbreitet. Şenay muss das Radio leiser drehen, damit ich den Glocken zuhören kann, ich kurbele das Fenster herunter und strecke den Kopf hinaus. Es klingt fremd und schön, dieser Ton, der da durch die Luft wabert, wie an und abschwellende Wellen.

Kultureller Jetlag

„Ich kann das immer noch nicht richtig glauben“, sagt Şenay. „Du wohnst in meinem und ich in deinem Land. Irgendwie stimmt das doch nicht, oder?“

„Ich mag dein Land jedenfalls“, sage ich. „Ich mag deins auch“, sagt sie. Dann zeigt sie auf die Scheibenwischer, die links und rechts über die Scheibe gleiten, denn es beginnt schon wieder zu regnen. „Na ja. Bis auf das Wetter.“

Şenay setzt mich vor meiner Wohnung ab, und ich bedanke mich für den Abhol- und Taxiservice. Fünf Stockwerke hoch, die Tür aufschließen, und ich bin zuhause. Und vor ein paar Stunden bin ich von zuhause losgefahren und habe meinen Kapuzenpulli über dem Küchenstuhl hängen lassen. Ich atme tief durch. Die ersten Tage im je anderen Land sind immer etwas anstrengend. In Istanbul habe ich einmal, als ich gerade aus Deutschland kam, einen Freund mitten auf den Mund geküsst. Es war keine Absicht, ich war einfach nur durcheinandergekommen. Ich glaube, man nennt das „kulturellen Jetlag“. In der Türkei küssen sich die Männer zur Begrüßung auf die Wange, und zwar zuerst auf die rechte und dann auf die linke. Frauen reicht man höflich die Hand. In Deutschland ist es genau umgekehrt: Man küsst die Frauen zur Begrüßung, zuerst auf die linke, dann auf die rechte Wange und gibt den Männern die Hand. Und wenn man nicht aufpasst, passiert das, was mir passiert ist. Barış wollte mit der rechten und ich mit der linken Wange anfangen, und dann landeten unsere Lippen direkt aufeinander. Wir haben zwar beide gelacht und uns auf die Schultern geklopft, aber unangenehm war es mir trotzdem.

Schokoladenhasen in Staniol

Am Abend bin ich in Schöneberg zu einer Party eingeladen. In der Küche fülle ich ein Glas mit Bowle und betrachte die beeindruckende Zahl an Schokoladenhasen, die auf dem Buffet in grünem Papiergras stehen. Tom stellt mir Rana vor, die Syrierin ist und in Berlin Architektur studiert. Er klopft mir auf die Schulter. „Und er lebt eigentlich in Istanbul.“ Dann entdeckt er jemanden im Flur, den er unbedingt begrüßen muss und lässt uns allein. Rana zeigt auf die grüne Wiese und erzählt mir, wie sie zum ersten Mal nach Deutschland kam und sich über die Schokoladenhasen in den Supermärkten wunderte. Als sie erfuhr, dass anlässlich eines „Osterfestes“ Kinder im Garten Süßigkeiten und Eier suchen, die angeblich ein Hase dort versteckt hat, verstand sie gar nichts mehr. Von der Kreuzigung und Wiederauferstehung Jesu hatte sie gehört, aber was hatten diese Schokoladenhasen mit Jesus zu tun? Sie konnte einfach keinen Zusammenhang erkennen.

„Aber die Kirchenglocken am Sonntag finde ich klasse“, sagt sie. „Und davon steht bestimmt auch nichts in der Bibel, oder?“ Sie grinst.

Und schon befinden wir uns in einem Gespräch über unsere Religionen. Seit ich in Istanbul lebe, betrachte ich vieles, das ich bisher selbstverständlich fand, mit einem anderen Blick. Wenn ich über betende Moslems auf dem Bürgersteig staune, warum soll ich mich dann nicht über Sternsinger wundern, die als Heilige Drei Könige gekleidet durch die Straßen ziehen und ihre Kreideinsignien an den Türen der Häuser hinterlassen, wo sie gesungen haben? Rana schüttelt den Kopf darüber, dass während des Ramadan erheblich mehr Lebensmittel verkauft werden, als im restlichen Jahr und dass die meisten Leute in der Fastenzeit zunehmen.

In der Zwischenzeit haben wir schon eine ganze Menge Bowle getrunken und stehen immer noch im Türrahmen zwischen Küche und Flur.

„Ich habe eine Geschichte, die du wahrscheinlich nicht toppen kannst“, sagt Rana.Und dann beginnt sie zu erzählen, wie sie vor vier Jahren zur Beschneidung ihres Cousins in das Dorf ihrer Verwandten fuhr. Die Beschneidung der Jungen, erklärt sie mir, sei ein ähnlich wichtiges Ereignis wie bei uns die Taufe oder Kommunion, und entsprechend groß wird gefeiert. Als sie nach dem Fest nach Damaskus zurückfahren wollte, wo sie damals studierte, nahm ihr Onkel sie zur Seite und bat sie um einen Gefallen.

„Und das hast du wirklich gemacht?“

„Ich konnte nicht ablehnen.“

„Und wie … ich meine …“ Ich nehme einen großen Schluck Bowle. „Wie hast du sie transportiert?“

„In einer Tupperdose.“

Ich räuspere mich. „In einer Tupper­dose?“

„Sie war in ein Stück Stoff eingewickelt, und ich habe sie in eine Tupperdose gesteckt. Und die Tupperdose in meine Handtasche. Und dann bin ich die sieben Stunden mit dem Bus durch Syrien zurück nach Damaskus gefahren.“

„Und womit hast du das Loch gegraben? Hattest du eine Gartenschaufel mitgenommen?“

„Ich habe einen Esslöffel benutzt“, sagt sie. „Ich wollte ja nicht auffallen. Es war eine ganz schöne Plackerei. Der Boden war so trocken und hart, dass ich lange brauchte, bis das Loch groß genug war.“

„Und diesen Brauch gibt es wirklich?“, frage ich. „Du nimmst mich nicht auf den Arm? Die Vorhaut des Sohnes wird an einem Ort vergraben, der für den Vater bedeutend war?“

Sie nickt.

„Und weil das für deinen Onkel die Universität von Damaskus ist und du dort studiert hast, hat er dich darum gebeten.“

Sie nickt.

„Du hast Recht. Die kann ich wirklich nicht toppen.“

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