Mülltonne giessen

Berliner Abende Der Mann stand vor dem offenen Müllcontainer und goss einen Eimer Wasser hinein. Er goss das Wasser sehr behutsam und bedächtig. Es sah aus, als ob ...

Der Mann stand vor dem offenen Müllcontainer und goss einen Eimer Wasser hinein. Er goss das Wasser sehr behutsam und bedächtig. Es sah aus, als ob er eine seltene Blume gießen würde. Dann stocherte er vorsichtig mit einem Stock im Container herum, wie ein Gärtner, der die Beschaffenheit des Erdreichs prüft.

Ich schloss mein Fahrrad ab und ging zu ihm hinüber.

"Hallo", sagte ich und versuchte, in den Container hineinzusehen, konnte aber nichts erkennen, weil die Beleuchtung im Hof ausgegangen war.

"Hallo", sagte er. Er musterte mich. "Sie habe ich hier noch nie gesehen."

"Ich bin ein Freund von Susanne Kron. Sie wohnt im Vorderhaus." Ich zeigte auf die erleuchteten Fenster im zweiten Stock.

"Haben Sie eine Heizung?", fragte er.

"Ja, eine Gasetagenheizung." Ich sah ihn verwirrt an, weil ich mit einer solchen Frage nicht gerechnet hatte.

"Ich habe einen Kachelofen", sagte er, als ob das alles erklären würde.

"Einen Kachelofen", wiederholte ich langsam. "Ich hatte auch mal eine Wohnung mit Kachelofen. Vor dem Schlafengehen habe ich immer ein in Zeitungspapier eingewickeltes Brikett auf die Glut gelegt. Wenn ich morgens aufstand, war immer noch Glut da, und ich bekam das Zimmer schnell wieder warm."

"Das mache ich auch so", sagte er.

Mir fiel wieder ein, warum ich überhaupt zu ihm hingegangen war. "Der Müllcontainer...", begann ich.

Er nickte, bevor ich weitersprechen konnte. "Ich war schon zweimal oben in meiner Wohnung, um Wasser zu holen." Er deutete auf den Eimer, der neben ihm stand und jetzt leer war. "Wenn man im fünften Stock im Seitenflügel wohnt, ist das Treppensteigen ganz schön anstrengend."

Ich sah ihn verständnislos an.

"Hier im Hof gibt es ja keinen Wasserhahn", erklärte er.

Ich betrachtete den Müllcontainer, in den er das Wasser gegossen hatte, als wäre er ein Blumenbeet. In was für ein merkwürdiges Gespräch war ich geraten? Dann vernetzten sich plötzlich die Informationen in meinem Kopf zu etwas Sinnvollem, und mir war klar, was er hier tat. Eigentlich hätte ich sofort darauf kommen können.

"Ein Platzregen wäre nicht schlecht", sagte ich.

"Den wird es nur leider nicht geben." Er zeigte in den dunklen, aber klaren Himmel. Er hatte Recht.

"Warten Sie einen Moment", sagte ich. "Ich helfe Ihnen." Ich flitzte hoch zu Susanne, klingelte an ihrer Wohnungstür und kurz darauf kamen wir wieder hinunter in den Hof, beide mit Eimern in der Hand. Der Mann freute sich sichtlich, als er uns sah, und wir gossen gemeinsam, feierlich das Wasser in den Container, der es wie ein durstiger Schwamm verschluckte.

"Das ist mir noch nie passiert", sagte er, als wir fertig waren und schüttelte den Kopf. "Im Eimer sah die Asche sehr still und erloschen aus."

"Gefahr erkannt, Gefahr gebannt", sagte Susanne und stocherte mit dem Stock im Container herum, dessen Inhalt wir in etwas Sumpfähnliches verwandelt hatten.

"Ganz schön kalt hier draußen", sagte ich und rieb mir die Hände.

"Darf ich Sie als Dank zu einem Glas Danziger Goldwasser einladen?", fragte er. "Meine Wohnung ist auch gut geheizt."

Wir grinsten. Und nickten.

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