Nebel

Berliner Abende Der zweitgrößte Park von Berlin beginnt oder endet im Prenzlauer Berg. Das hängt davon ab, von welcher Seite man ihn betritt. Man kann im Prenzlauer ...

Der zweitgrößte Park von Berlin beginnt oder endet im Prenzlauer Berg. Das hängt davon ab, von welcher Seite man ihn betritt. Man kann im Prenzlauer Berg in den Park hineingehen und in Friedrichshain wieder herauskommen und umgekehrt. Es gibt Bäume und Büsche, weite Rasenflächen, zwei Teiche und zwei Berge, imposante Wasserfontänen und einen Märchenbrunnen. Der Park ist so groß, dass man sich mit etwas gutem Willen sogar darin verlaufen kann.

Ich erinnere mich an einen Morgen im März vor zwei oder drei Jahren. Es war noch ziemlich früh. Es war sieben oder acht Uhr, und normalerweise schlafe ich um diese Uhrzeit noch, weil ich immer erst sehr spät ins Bett gehe. Ich bin gerne wach, wenn andere Menschen schlafen. Ich lese dann oder höre Musik. Aber damals hatte ich Wenzel zu Besuch, den Hund einer befreundeten Dramatikerin, die an einen Ort gefahren war, zu dem Hunde keinen Zutritt haben. Ich mochte Wenzel sehr gern, und es machte mir nichts aus, dass seine Hundeblase eine Woche lang meinen Tagesrhythmus bestimmte.

Es war immer der gleiche Weg, den wir gingen: Aus der Haustür hinaus, links hinein in die Liselotte-Herrmann-Straße, dann die Bötzowstraße hinunter bis zum Kino, wo ich die Plakate der Kinofilme betrachtete, während Wenzel die Fahrradständer unter die Lupe nahm. Dann waren es nur noch wenige Schritte und wir befanden uns im Park.

Es war ein kühler Tag mit wenig Licht. Die Bäume standen mit ihren dürren Ästen wie frierende Skelette herum. Alles war voll von weichem, weißen Nebel und Raureif. Man konnte keine fünfzig Meter weit sehen. Ab und zu tauchten Jogger vor uns auf, glitten mit einem Kopfnicken an uns vorbei und verschwanden fünfzig Meter hinter uns wieder im Nebel. Wenzel interessierten die Jogger nicht. Er schnupperte an Laternenpfählen, Mülleimern und Laub aus dem letzten Herbst. Wir gingen die Serpentinen, die sich wie ein eigenwilliges Hutband um den großen Bunkerberg legten, hinauf. Langsam und in langen Schleifen bewegten wir uns um den Berg, und je höher wir kamen, umso mehr lichtete sich der Nebel.

Und schließlich waren wir auf dem Aussichtsrondell angelangt. Wir waren ganz alleine dort oben. Die Jogger drehten ihre Runden irgendwo anders im Park. Alles, was wir sahen, war eine dicke Schicht Nebel, aus der an einigen Stellen Hochhäuser und der Fernsehturm herausragten. Da unten waren die dreieinhalb Millionen Einwohner Berlins abzüglich uns beiden, aber es war von ihnen nichts zu sehen und nichts zu hören. Es hatte etwas Deprimierendes und Erhebendes zugleich. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel, den eine geschlossene Wolkendecke verbarg. Wir befanden uns in einem Sandwich aus Luft, Entfernung und Melancholie. Es gab bloß uns beide, Wenzel und mich. Wir waren wie Tim und Struppi auf dem Mond, nur dass wir keine Sauerstoffmasken trugen. Wenzel begann, um mich herumzuspringen, und auch ich hüpfte, einem inneren Impuls folgend, in die Luft, immer wieder und wieder und immer höher und weiter und weiter und wartete darauf, dass die Schwerkraft irgendwann aufhören würde, mich wieder auf die Erde zurückzuziehen.

Es war ein Morgen zwischen Winter und Frühling vor ein paar Jahren, und ich habe mich noch nie so allein auf der Welt gefühlt wie an diesem Tag, an dem ich auf dem Rondell des Großen Bunkerbergs im Volkspark Friedrichshain herumhüpfte, als wäre er ein riesengroßes Trampolin.

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