Unbebaute Grundstücke

Berliner Abende Kolumne

Einige Schritte neben meinem Stammbäcker in der Greifswalder Straße ist eine Baulücke. Es ist eines dieser unbebauten Grundstücke in der Stadt, die immer weniger werden, bis es sie irgendwann überhaupt nicht mehr geben wird. Das Grundstück ist nicht mehr als ein leerer Platz zwischen zwei Häusern. Trotzdem wird es von einem zwei Meter hohen Bretterzaun wie eine Kostbarkeit bewacht, und es gibt nirgendwo Astlöcher, durch die man hindurchschauen könnte, weil der komplette Zaun mit Plakaten zugeklebt ist.

Ich hatte gerade acht Mehrkornbrötchen und zwei Streuselschnecken gekauft, als ich den Mann vor dem Zaun stehen sah. Er trug einen hellbraunen Hut aus Cordstoff auf dem Kopf und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Zaun zu schauen, aber er war einfach zu klein. Und er war alt. Er war richtig alt. Er hätte ein Jugendfreund meines Großvaters sein können. Ich blieb stehen und sah ihm bei seinen Bemühungen zu.

"Ich bin einfach zu klein", sagte er, als er mich bemerkte und klopfte mit seinem Stock traurig gegen den Zaun. "Was ist denn hinter diesem Zaun?", fragte ich. "Ich habe da mit meinen Eltern gewohnt", sagte er. "Im vierten Stock." Er zeigte mit dem Finger in den Himmel. Ich folgte seinem Finger mit den Augen und sah zwei Schwalben, die in der Luft Pirouetten drehten. Vielleicht war genau an dieser Stelle sein Kinderzimmer gewesen, dachte ich. "Ich würde gerne wissen, wie es jetzt dort aussieht", sagte er. Ich sah ihn wieder an. Sein Gesicht war ein Mosaik aus faszinierenden Falten. Ich dachte nach. "Ich kann Ihnen helfen", sagte ich schließlich.

Ich stellte meine Tüte mit den Brötchen und den beiden Streuselschnecken ab und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Bretterwand. Ich schränkte meine Handflächen ineinander. Eine klassische Räuberleiter.

Er sah auf meine Hände. "Meinen Sie wirklich?" "Na los", sagte ich. "Wofür gehe ich sonst zwei Mal in der Woche ins Fitnessstudio? Für irgendwas muss das ja gut sein."

Er zögerte einen kleinen Moment, aber dann lehnte er seinen Stock an den Bretterzaun und stieg vorsichtig mit dem linken Fuß auf meine Handflächen. Er hielt sich mit den Händen an meinen Schultern fest, und ich fuhr ihn wie ein Fahrstuhl einen halben Meter nach oben.

"Es funktioniert", sagte er über mir. "Ich kann über den Zaun sehen." Seine Stimme klang warm und aufgeregt. "Und was sehen Sie?", fragte ich. Ich musste ein wenig keuchen. Ich trainierte im Fitnessstudio zwar alle möglichen Muskelpartien, aber die Muskeln in den Handflächen gehörten anscheinend nicht dazu. "Na ja", sagte er. "Aufgeworfene Erde, Steine, ein paar Disteln. Aber darum geht es nicht." Er machte eine Pause. "Ich erinnere mich."

Wir schwiegen beide eine Weile, während ich ihn weiter festhielt und er über den Zaun in seine Kindheit blickte. Ich dachte an das sechshundert Kilometer entfernte Haus meiner Eltern. Es war das letzte in der Straße und dahinter begannen die Felder. Wenn im Sommer der Weizen hoch stand, hatte ich darin mit meinem Bruder Verstecken gespielt. Und einige Jahre später hatte mir Verena dort meinen ersten Zungenkuss gegeben. Ich war schon lange nicht mehr dort gewesen.

"Das ist schon komisch", sagte der Mann über mir. "Dinge vor Augen zu haben, die gar nicht mehr da sind." Er räusperte sich, und dann war er wieder still, und wir hingen beide weiter unseren Vergangenheiten nach.

Was Verena wohl machte? In der zehnten Klasse war sie mit ihren Eltern weggezogen, zwar nur vierzig Kilometer weiter, aber sie hatte die Schule gewechselt, und ich hatte sie nie wiedergesehen. Ob sie sich noch an mich erinnerte?

"Sie können mich jetzt herunterlassen", hörte ich den Mann über mir sagen. Ich nickte. "Halten Sie sich fest." Dann fuhr ich ihn mit meinem Einpersonenlift langsam zurück in die Gegenwart, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

"Ich könnte jetzt ein Stück Streuselschnecke vertragen", sagte ich. "Sie auch?" Ich bückte mich, hob die Tüte auf und hielt sie ihm hin. "Danke", sagte er und brach sich ein Stück ab. "Und danke auch dafür." Er zeigte auf den Zaun. "Das war sehr nett von Ihnen. Und es war keineswegs selbstverständlich."

"Das habe ich gerne gemacht", sagte ich. Ich knetete ein wenig meine Handflächen, damit sich die Muskeln wieder lockerten. "Und es war auch für mich ein Erlebnis. Ich habe hier zwar nie gewohnt, aber ich habe eben trotzdem eine kleine Reise in meine Vergangenheit gemacht."

"Dann waren wir ja gerade für ein paar Momente gleich alt", sagte der Mann.

Ich schmunzelte.

"Vielleicht waren sie sogar ein wenig jünger als ich", sagte ich. "Ich habe mich nämlich an meinen ersten Kuss erinnert."


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