Zwischen Kontinenten

Alltag III Montagmorgen, 24. September und wir fahren gemeinsam mit der Fähre von Asien nach Europa. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass das in dieser ...

Montagmorgen, 24. September und wir fahren gemeinsam mit der Fähre von Asien nach Europa. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass das in dieser Stadt selbstverständlich und keine große Sache ist, aber ich bin ja auch noch nicht so lange hier. Vielleicht geht es ihr ganz genau so, denke ich. Sie sitzt neben mir und wir kennen uns seit fünf Tagen und eigentlich kennen wir uns gar nicht richtig. Wir wissen nur so viel voneinander, wie wir im Sprachkurs gelernt haben, und da sind wir erst bei Lektion 3.

"Benim adim Daniel. Mein Name ist Daniel. Ich komme aus Berlin. Ich bin in Wiesbaden geboren. Ich mag Katzen. Und Fußball. Ich esse gerne Kebab ohne Zwiebeln."

Wir sitzen oben auf dem Deck in der Sonne. Ich trinke einen çay, obwohl ich schwarzen Tee sonst nicht mag, aber hier schmeckt er mir, und sie knabbert an einem Sesamkringel. In der ersten Stunde im Sprachkurs hat die Lehrerin jeden gefragt, wie er heißt, aus welchem Land er kommt und wo er wohnt. Wir sind die beiden Einzigen, die auf der asiatischen Seite wohnen, und deshalb fahren wir nun jeden Morgen gemeinsam mit der Fähre nach Europa.

Sie spricht weder Englisch noch Deutsch. Und ich kann kein Japanisch. Türkisch ist unsere einzige gemeinsame Sprache, und wir sind ja gerade erst dabei, es zu lernen.

Sie tippt mir auf die Schulter und zeigt nach vorne. "Dein Kontinent", sagt sie. Dann zeigt sie mit dem Arm nach hinten. "Mein Kontinent." Sie will noch etwas sagen, aber ihr fehlen die Worte, und schließlich gibt sie mit einem bedauernden Schulterzucken auf.

Gesichtsausdrücke und Gesten. Und ein paar Sätze Türkisch. Auf diese Weise unterhalten wir uns. In unseren Gesprächen sind immer große Lücken und hinter jedem Satz blühen Geheimnisse wie wilde Blumen, weil die Phantasie, all das ersetzen muss, was man nicht versteht.

Nachdem ich eine Weile im Wörterbuch gesucht habe, sage ich schließlich: "Kiz evlat var mi?", weil mich das seit der ersten Stunde beschäftigt. "Hast du wirklich eine Tochter?"

Sie nickt.

Sie sieht aus wie Mitte zwanzig, und ich kann gar nicht glauben, dass sie eine Tochter hat, die in Tokio Grafikdesign studiert, aber vielleicht sieht man japanischen Frauen ihr Alter auch nicht an. Oder ich habe irgendetwas falsch verstanden. Vielleicht hat sie gar keine Tochter, sondern entwirft Grafiken für die türkische Tochtergesellschaft einer japanischen Firma und verdient damit ihr Geld. Oder sie war auf einer Höheren-Töchter-Schule in Tokio, wo sie die Schülerzeitschrift illustriert hat. Ich werde das wohl erst in ein paar Wochen wissen, wenn wir beide besser türkisch sprechen.

Solange werde ich jeden Tag ein kleines bisschen mehr über sie erfahren. Sie ist die erste Japanerin, die ich kenne, und weil ich sie hier kennen gelernt habe, gehören Japan und Istanbul für mich nun sehr eng zusammen.

Gleich legt die Fähre an. Ich freue mich schon auf den Sprachkurs. Heute lernen wir Verben zu konjugieren und das eröffnet uns für die Rückfahrt völlig neue Gesprächsmöglichkeiten.

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