Rosenmontag, der Höhepunkt der fünften Jahreszeit. In Köln und Düsseldorf werden sich zu den Karnevalsumzügen Hunderttausende Menschen in den Straßen drängen. Um den Bewohnern der umliegenden Kleinstädte und Dörfer den Gewissenskonflikt zwischen Lokalpatriotismus und dem großstädtischen Massenerlebnis zu ersparen, findet der Fastelovvend (Fastnacht) hier schon am Sonntag statt.
Vorbei zieht der Megatagebau Garzweiler, der mit seinen gewaltigen Mondlandschaften und riesigen Schaufelbaggern an das Braunkohlerevier in der Lausitz erinnert. Irgendwo zwischen Düsseldorf und Köln, nahe der Stadt Neuss, liegt mitten in der Landschaft, eingekeilt von Äckern, Autobahnen und Kraftwerken unser Ziel, die 12.000-Einwohner-Gemeinde Rommerskirchen. Nichts weist darauf hin, dass sie sich im Zentrum des bevölkerungsreichsten Bundeslandes der BRD befindet.
Besonders erwähnenswert an dieser Ortschaft ist laut einer Broschüre der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke mit dem Namen Kulturlandschaft Niederrhein lediglich, dass sie die älteste Kirche des Kreises Neuss und 14 Schützenfeste im Jahr hat.
Die Broschüre wurde mir auf Anfrage vom Rommerskirchener Fremdenverkehrsamt zugesandt. Wann immer ich Freunden und Bekannten aus dem Ort davon erzählte, brachen sie in schallendes Gelächter aus. Die Informationen in dem Heft sind durchaus korrekt. Nur ein Fremdenverkehrsamt hätten sie ihrem Heimatort nicht zugetraut. Sie selber beschreiben den Ort als den langweiligsten und hässlichsten der ganzen Welt, oder doch zumindest ganz Deutschlands. "Natürlich gibt's hier 14 Schützenfeste im Jahr, was sollten die Leute denn auch sonst machen?"
Heute jedoch soll alles ganz anders sein. Es ist Karneval.
Der Kölner Hauptbahnhof ist die Hölle zur Karnevalszeit, oder der Himmel. Das hängt wohl von der Perspektive ab. Hier ist es sowieso schon immer unerträglich voll, doch an den tollen Tagen sind die Leute auch noch penetrant heiter und angeheitert dabei.
Mitten im Gedränge gelingt es mir, einen Würstchenstand zu erreichen. Dort trällert die Verkäuferin gerade inbrünstig Stephan Raabs Wadde hadde dudde da. Sie gibt mir eine Currywurst und sagt wie zur Entschuldigung: "Ja damals, in den Sechzigern, da hatten die auch so geistreiche Texte. Wahrscheinlich ist der zu so was gezeugt worden." Vielleicht wurde er das ja tatsächlich. Ich weiß es nicht. Mein Brötchen wird mir von einer Horde Piraten geraubt, mitten auf dem Kölner Hauptbahnhof.
Karneval ist eine ernste Sache, werde ich belehrt. Auch in Rommerskirchen. Der Ablauf der Veranstaltung ist seit Ewigkeiten tradiert. Und auch Gäste von außerhalb haben sich an die Regeln und Rituale zu halten.
Als erstes hätten wir da den Karnevalsgruß.
Ruft man in Köln "Kölle Alaaf" und in Düsseldorf "Düsseldorf Helau", so heißt es in Rommerskirchen ganz diplomatisch (zur Erinnerung, der Ort liegt zwischen den beiden Metropolen) "Gillbach Alau". Da fühlt sich niemand auf den Fuß getreten, und das örtliche Rinnsal wurde auch verewigt.
Wenn also jemand laut "Gillbach" ruft, sollen alle Menschen in Hörweite "Alau" antworten. Ich habe nicht ein einziges Mal jemanden "Gillbach" rufen gehört.
Die zweite Regel: verkleidet sollen die TeilnehmerInnen sein. Es heißt, zum Karneval verkleiden sich die Menschen als das, was sie schon immer sein wollten. Wochen vor dem großen Ereignis hatte ich den Plan gefasst, eine kanadische Feuerwehruniform zu tragen. Eine karnevalserprobte Einheimische meinte allerdings, dass das albern sei und steckte mich erst in ein blau-weiß gestreiftes nachthemdartiges Kostüm, setzte mir dann eine weiße Perücke und eine bunte Zipfelmütze auf und schminkte anschließend mein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Eine anständige Verkleidung eben.
Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, zur Karnevalszeit durch das Rheinland zu reisen. Die Bahnhöfe sehen eigentlich so dreckig aus wie immer. Nur hier und da sind einige verkleidete Gestalten zu sehen. Aber das ist mehr als bei mir zu Hause.
Karneval kann nicht erfunden werden. Er ist einfach da, oder eben nicht. Da, wo ich herkomme, ist er eben nicht. Ein bisschen Kinderfasching vielleicht, aber das war es auch schon. Nur von Hörensagen waren mir die DDR-Karnevalshochburgen Wasungen, Hagenow und der Dresdner Fasching ein Begriff, und wenn das Westfernsehen das lachende und singende Mainz zelebrierte, war ich immer recht zügig bei der Fernbedienung.
Auch die Versuche, nach 1989 den Karneval in einigen ostdeutschen Städten neu zu etablieren, wurden nicht nur von mir, sondern auch von den meisten anderen Ossis ignoriert. Jahrhunderte der Reformation und Jahrzehnte Realsozialismus haben deutliche Spuren hinterlassen.
Im ICE auf dem Weg ins Heimatland des rheinischen Frohsinns komme ich mit einem Urkölner ins Gespräch. Er erzählt mir, dass es für das Phänomen Karneval eine ganz praktische Erklärung gibt. Es war ja früher noch etwas komplizierter, Lebensmittel zu konservieren. Und da Ende Februar in der Regel das Tauwetter einsetzte, drohten die Reste der Wintervorräte in den Vorratskammern schlecht zu werden. Also mussten die schnell weg. Was gab es da Besseres, als ein großes Fest zu veranstalten, an dem jede Mäßigung beim Verzehr von Lebens- und Genussmitteln verpönt war. Die Verkleidungen wurden aus heidnischen Traditionen zur Vertreibung der Wintergeister übernommen.
Danach war dann das gesamte Essen weg, das neue aber noch nicht wieder da. Schafe gab's erst wieder zu Ostern, und auch das Getreide war noch nicht so weit. Und schon haben wir eine plausible Erklärung für die Fastenzeit.
Durch mein überhaupt nicht albernes Kostüm inzwischen vollständig assimiliert, ziehe ich durch den Ort, werde gezogen. Dort die katholische Kirche, dort der katholische Friedhof, der katholische Kindergarten usw.
Die dritte Regel: Die TeilnehmerInnen werden Jecken genannt. Weil sie so fröhlich sind.
Die meisten Erwachsenen sind sehr minimalistisch kostümiert. Eine Kappe, ein bisschen Schminke vielleicht, ansonsten ganz normal.
Die Kinder sind dafür in die verschiedensten Verkleidungen gesteckt, neben den traditionell populären Prinzessinnen und Cowboys scheinen in diesem Jahr Bundeswehrsoldaten und Teletubbies besonders in zu sein. Die Kleinen zerren ihr Erziehungspersonal zielstrebig in Richtung Hauptstraße. Hier kommt der Zug durch.
Der Zug besteht aus verschiedenen Prunkwagen und lauter Musikfußtruppen, die zur Unterhaltung der Bevölkerung durch den Ort ziehen. Der Zug hat jedes Jahr ein anderes Motto. Daran orientiert sich die Gestaltung der Wagen und der Kostüme. Ich frage, welches das diesjährige Motto sei, niemand weiß es. Die meisten Wagen sind mit Anspielungen auf aktuelle politische Ereignisse geschmückt. Spendenzirkus, schwarze Konten usw. Es sind über dreißig Gruppen, die sich hier präsentieren. Mit Pferdewagen, Traktorengespannen oder auch nur einem alten Kleintransporter. Ein dieselbetriebener Rasenmäher ist ebenfalls dabei.
Vierte Regel: Wenn die Wagen kommen, haben die Personen am Straßenrand laut "Kamelle, Kamelle!" zu rufen, woraufhin von den Wagen Süßigkeiten aller Art geworfen werden. In der Ausbeute des Tages finden sich Kaugummis, Bonbons, Zellstofftaschentücher und Leberwurst. Die Kappellen werfen nichts, die machen Musik.
Die fünfte Regel lautet: Die Kinder stehen in der ersten Reihe. Damit die Eltern einen Platz in der zweiten sicher haben und auch etwas abbekommen.
Es macht Spaß, dem Umzug zuzuschauen und mit den Kindern die Süßigkeiten zu tauschen, langsam friere ich aber doch ganz schön. Auf die Toilette gehen muss ich auch dringend, und mein Gesicht juckt. Ich kann mich aber nicht kratzen. Die Schminke bleibt nämlich recht unangenehm an den Händen kleben.
"Dir is scheißkalt, du musst pissen und et juckt überall, dat is Karneval!" Ich hätte mich nicht beklagen sollen. Mir wird von Karnevalszügen mit der doppelten Menge an Wagen erzählt, die nur die Hälfte der Zeit gebraucht haben, weil es so kalt war.
Der letzte Wagen fährt vorbei. Das Prinzenpaar winkt, die Menge winkt zurück und drängt sich zur Turnhalle der ehemaligen Grundschule des Ortes. Dort ist es warm, und es gibt Toiletten. Zwei meiner Probleme sind gelöst. Sitzplätze wurden ebenfalls erobert, und das Kölsch steht schon auf dem Tisch.
Die Halle wurde vermutlich für drei Schulklassen konzipiert, jetzt tobt darin ganz Rommerskirchen. Der Karnevalshit des Jahres heißt: Ich bin der Anton aus Tirol. Ein Saal kocht. Jetzt weiß ich endlich, was das bedeutet. Dieser Saal kocht über. Die Menge skandiert "Anton, Anton, Anton" und alle halbe Stunde gibt der DJ nach.
Die Kinder sitzen auf ihren Plätzen und machen sich über die Kamelle her. Vergesst die Zahnbürsten! Die Eltern freuen sich über die Kinder und über den reibungslos funktionierenden Kölschnachschub.
CDU wird in Rommerskirchen aus Tradition gewählt, wie überall in der verhalten wohlhabenden und konservativen Umgebung. Die Menschen haben Arbeit im industriellen Komplex von Düsseldorf, bei RWE und Bayer.
"Rommerskirchen - reizvoller Kontrast zwischen ländlicher Idylle und Großstadtindustrie", so die Broschüre Kulturlandschaft Niederrhein. Nein, der Ort ist nicht sonderlich reizvoll, daran ändern auch solche Euphemismen nichts. Sächsische Industriedörfer zum Beispiel sind wenigstens noch von Bergen umgeben, die einzige größere Erhebung in der Nähe Rommerskirchens ist die Allrather Höhe, von der Bevölkerung Allrather Kippe genannt. Es handelt sich um eine Abraumhalde. Die Landschaft ist von gewaltigen Überlandleitungen durchzogen. Und in Sichtweite befinden sich die dazugehörigen Braunkohlekraftwerke.
Und doch kommen zum Karneval dort Menschen, die alles getan haben, um dieser Einöde zu entfliehen, die vor Lachen fast unter den Tisch fallen, wenn sie erfahren, dass Rommerskirchen ein Fremdenverkehrsamt hat. Sie sind dort zu Hause. Ihr Zynismus verdeckt nicht die Begeisterung, wenn sie von den Orten ihrer Kindheit sprechen. Auch ihre Freude, Bekannte und Verwandte wiederzusehen, können sie nicht verstecken. Ich überlege laut, ob ich nicht auch mal am "echten" Karneval teilnehmen sollte, Prunksitzung, Rosenmontagsumzug in Köln. Mit einem Leuchten in den Augen belehren sie mich, dass ich es echter als in Rommerskirchen kaum haben kann. Die Stimmung, die Menschen und natürlich viel bessere Kamelle. In Köln gibt es sicherlich keine Leberwurst.
Die Kinder fangen an, sich zu langweilen. Die Musik ist laut, die Turnhalle verqualmt, und die Erwachsenen sind inzwischen völlig durchgedreht. Die lokale Jugend tanzt auf den Tischen. Die Tische tragen nicht. Die Älteren begnügen sich mit den Stühlen. Gebranntes Kind scheut das Feuer.
Ich bin so schön, ich bin so toll. Ich bin der Anton aus Tirol! Gnadenlos, alle halbe Stunde. Kölsch ist immer noch reichlich da, die Schlangen vor den Toiletten werden länger. Die Leute amüsieren sich bestens.
Ich bekomme auf mein Clownsgesicht noch Sommersprossen und lerne, dass ich für solcherart Dienstleistung mit einem Bützchen (Küßchen) bezahlen müsse. Das tue ich und bekomme noch eine Mundharmonika dazu. Bützchen.
Singen ist Pflicht. "Mer losse de Dom in Kölle". Ich habe keine Ahnung, wie der Text geht.
Trinken ist auch Pflicht. "Eschte Frünnde ston zusamme". Und fallen auch zusammen um.
Es ist Zeit, die Kinder nach Hause zu bringen. Mit ihnen verschwinden die Eltern und Großeltern und die Stimmung wird noch ausgelassener.
"Anton, Anton, Anton!"
Eine Meerjungfrau erklärt mir das Regelwerk der unschuldigen Karnevalsflirts. Es ist eigentlich wie sonst auch. Die Besonderheit ist, dass man nicht böse sein darf und mitmachen muss.
"Meine megaschlanken Wadeln sind 'ne Freude für die Madeln. Ich bin der Anton aus Tirol!" Und ich bin betrunken.
Bei meinen Gastgebern hat sich inzwischen fast die gesamte Großfamilie eingefunden. Es gibt wahlweise Gulasch- oder Erbsensuppe zur Stärkung. Von den alten Zeiten wird geschwärmt, und mir werden im Vorgarten die Bäume erklärt. Dort ist der eine beim Fahrradfahren böse gestürzt, und da hat immer die Katze gesessen. Am Horizont sehe ich zwei hellerleuchtete Kraftwerke.
Rommerskirchen, der hässlichste und langweiligste Ort der Welt? Wenigstens einmal im Jahr ist es der schönste.
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