Ohne Chef zur Straßenblockade

Selbstverwaltung In Argentinien haben Arbeiter mehr als 300 Betriebe besetzt und die Produktion übernommen
Ausgabe 35/2015

Es ist Betriebsversammlung in der instandbesetzten „Fábrica Sin Patrones“ Zanón, einem riesigen Keramikwerk am Rande von Neuquén im westlichen Argentinien. Etwa die Hälfte der mehr als 450 Mitglieder der größten Arbeitergenossenschaft des Landes sitzen und stehen auf der Freifläche zwischen Werkstor, Fabrikverkauf und Besuchsempfang. Sonst diskutiert und entscheidet die asamblea als höchste Instanz über alles, was im Betrieb passiert – von der Arbeitsaufteilung über Veranstaltungsplanung bis zum Umgang mit Mackertum unter den Kollegen. Heute geht es jedoch einmal mehr um die Auseinandersetzung mit der Außenwelt, und zwar nicht mit den längst überwiegend freundlich und sympathisierend gesinnten Menschen aus der Umgebung des Betriebs, sondern mit der Provinzregierung und dem Staat.

Vor 14 Jahren haben Zanón-Arbeiter die Fabrik besetzt, um sich gegen ständige Entlassungen, tödliche Arbeitsbedingungen, Aussperrung und letztlich die Schließung ihres Betriebs zu wehren. Sie streikten den berüchtigten Alteigentümer Luis Zanón in die Flucht und übernahmen den Betrieb als Kooperative. Heute ist „FaSinPat“ der größte von über 300 instandbesetzten Betrieben in ganz Argentinien. Die ersten von ihnen entstanden zwischen 1998 und 2002, als das Land nach Jahren neoliberaler Ausplünderung ökonomisch kollabierte und Menschen sich allerorts selbst zu organisieren begannen, in ihren Wohnvierteln, auf den Straßen und in den Betrieben.

Subventionen für Private

Konkret dreht sich die Betriebsversammlung bei Zanón um die millionenschweren Subventionen und Kredite, mit denen das direkt benachbarte Privatunternehmen Cerámica Neuquén seine Anlagen in den letzten Jahren stetig erneuern konnte; die Kooperative erhielt so gut wie nichts. Für Zulma Morales vom Frauenausschuss des Betriebs ist klar: „Sie haben diese Kredite bekommen, weil sie nicht in Belegschaftskontrolle sind.“ Außerdem habe die Regierung, die sich gern mit den fábricas recuperadas schmückt, die legale Anerkennung der Instandbesetzung mit der Zahlung von vier Millionen Pesos an ausstehenden Steuerzahlungen Luis Zanóns verbunden. Sie machte also für dessen Schulden die Arbeiter haftbar, die damals mit ihrer Besetzung die Ausschlachtung des Betriebs und die Konkursverschleppung gestoppt hatten.

Dagegen, so sind sich alle Versammelten einig, hilft nur politischer Druck. Es ist bereits das dritte Treffen, um die Protestaktion zu beschließen und über konkrete Forderungen, etwa die Höhe der nötigen und ihnen zustehenden Subventionen, zu beraten. An diesem Nachmittag, zum Wechsel zwischen Früh- und Spätschicht, soll über die Aktionsform abgestimmt werden. Drei Möglichkeiten stehen zur Wahl: zum Sitz der Provinzregierung in der Innenstadt von Neuquén ziehen, eine wichtige Brücke in der Stadt besetzen oder die mehrspurige Schnellstraße vorm Betrieb blockieren. Die Diskussion ist kurz, das Ergebnis klar: Straßenblockade – sichtbar, erfahrungsgemäß wirksam und in der Nähe des Betriebs.

„Für jede Hilfe, die wir je bekommen haben, haben wir kämpfen müssen“, sagt Zulma Morales und verweist auf das Beispiel der selbstverwalteten Schule auf dem Werksgelände. Sie ist nach dem Prinzip des Betriebs als Kooperative organisiert und soll dem Ausschluss vieler vor allem junger Leute aus dem staatlichen und privaten Bildungssystem entgegenwirken. „Das Projekt wurde von einer Gruppe von Arbeitern und Lehrern ins Leben gerufen. Sie verlangten Unterstützung vom Bildungsministerium der Provinz, das aber keine Schule im Betrieb haben wollte. Also mussten wir kämpfen. Die Provinzregierung wollte die Gehälter der Lehrer nicht bezahlen, aber nun muss sie.“

Mindestens 20 der instandbesetzten Betriebe Argentiniens beherbergen eine solche bachillerato popular. Ihre Erfahrungen ähneln sich. „Die Beziehung zum Staat ist angespannt“, sagt Vanesa Jalil, Präsidentin der Lehrendenkooperative in der instandbesetzten Druckerei Chilavert in Buenos Aires. „Alles, was wir haben, haben wir, weil wir dafür gekämpft haben.“ Immer wieder versuche die Regierung, egalitäre Selbstverwaltung und selbstermächtigende Lerninhalte zu unterbinden; sie benutze dafür Lehrergehälter und die Anerkennung der Abschlüsse als Druckmittel.

Bis auf einen Fall war diese Einflussnahme jedoch bisher nie erfolgreich. Hierarchisch gezahlte Gehälter werden intern gleich aufgeteilt. Die fehlende Mittel für den Bau einer zweiten Toilette sammelte die Chilavert-Schule kurzerhand mit einer Benefizveranstaltung ein. Im Metallteilewerk IMPA in Buenos Aires, bereits seit 1998 in Arbeiterselbstverwaltung, wurde 2003 die erste bachillerato popular eröffnet, es folgten eine Poliklinik, ein Radiosender, ein Kulturzentrum und eine Arbeiteruniversität, deren Abschlüsse nun offiziell anerkannt werden.

Fast alle Fabrikbesetzungen waren zunächst aus der Not des drohenden Verlusts von Arbeitsplatz, Ausbildung oder sozialer Infrastruktur durch Insolvenzen und Einsparungen geboren. Claudio Valori vom instandbesetzten Textilbetrieb Brukman sagt: „Es begann mit: ‚Ich verliere meinen Job.‘ Nicht mit der Entscheidung, Eigentümer zu enteignen. Ich wurde zu einem Aktivisten durch diesen Kampf, vorher war ich es noch nicht. Es war wie eine Reise: Ich beteiligte mich am Kampf und fand dann heraus, dass ich wohl ein Sozialist bin.“

Blick nach Deutschland

Eine in diesem Kampf erlangte Erkenntnis war, dass die Arbeiter sich nicht auf den Staat verlassen können, wie arbeiterfreundlich er sich auch präsentieren mag. Aus den mitunter handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Kirchner-Regierungen Argentiniens, mit lokalen Autoritäten, mit den großen Gewerkschaften, Eigentümern, mit Polizei und Justiz zogen die meisten fábricas recuperadas einen Schluss: Den besten Schutz gegen Erpressbarkeit von außen bietet die größtmögliche Ebenbürtigkeit nach innen. Alle bekommen den gleichen Lohn, technisch gesehen wird allen Mitgliedern der Genossenschaft der gleiche Gewinnanteil ausgeschüttet. Und die stets einberufbare Vollversammlung, bei der alle das gleiche Rede- und Stimmrecht haben, beschließt alles den Betrieb Betreffende.

Die Argentinier arbeiten mit Instandbesetzungen in anderen lateinamerikanischen Ländern sowie in Italien, Frankreich und mit der 2011 besetzten Baustoffefabrik Vio.Me im griechischen Thessaloniki zusammen, berichtet der Sprecher von IMPA und des Dachverbands MNER, Eduardo Murúa. „Nach Deutschland gibt es bisher keine Verbindungen, aber unser Vorbild muss auch dort verbreitet werden!“

Die neuere deutsche Geschichte nämlich gilt den stärker politisierten Arbeitern in den fábricas recuperadas, besonders denen im Umfeld der im Parlament vertretenen Linksfraktion FIT, als wichtigstes Beispiel für eine mächtige Arbeiterbewegung, die sich immer wieder von ihren eigenen Anführern verschaukeln ließ. So vermochten die deutschen Arbeiter ihre besten Momente in der Streik- und Sozialisierungsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu nutzen, ließen sich vom Kampf gegen den Nationalsozialismus abhalten und liefen schließlich in Scharen zu ihm über.

Daniel Kulla ist Schriftsteller und Übersetzer. Das von ihm übersetzte Buch Sin Patrón. Arbeiten ohne Chefs über Argentiniens fábricas recuperadas ist soeben bei AG SPAK erschienen

Es mag verwegen anmuten, mit Blick auf das heutige Deutschland an Arbeiterselbstverwaltung und Klassenkampf zu denken. Doch der zuletzt geschürte Hass auf Arbeitskämpfe und Streiks wie bei der Bahn, das Erstarken von Rassismus und Antisemitismus verlangen eine Antwort. Hass und Ideologie blühen so lange, wie Menschen sich nicht als Ebenbürtige behandeln, das ist die Überzeugung hinter den Instandbesetzungen in Argentinien und anderswo. In Deutschland hatten sich 2007 Arbeiter einer Fahrradfabrik im thüringischen Nordhausen dagegen gewehrt, dass ihr neuer Eigentümer, ein Finanzinvestor, das Werk schließen wollte; sie besetzten es und produzierten fortan das „Strike Bike“, dessen erste Serie reißenden Absatz fand. Doch 2010 musste der instandbesetzte Betrieb Insolvenz anmelden.

Das sollte Arbeiter in Deutschland nicht von neuen Versuchen abhalten, meint Claudio Valori vom Textilbetrieb Brukman. Betriebe würden auch in Zukunft ohne Rücksicht auf sie geschlossen werden. In Argentinien wissen nun viele, wie man darauf mit der Aneignung der Produktionsmittel reagiert. „Vielleicht kann die argentinische Arbeiterklasse, die einst aus Europa abgehauen ist, nun etwas zurückgeben.“

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