Der Pass wird passend gemacht

Abschiebung Wenn die deutschen Behörden einen Flüchtling nicht loswerden, lassen sie eben dessen Staatsangehörigkeit ändern. Afrikanische Botschaften werden für ihre Mithilfe bezahlt
Ausgabe 03/2016
Im Oktober 2012 besetzten aufgebrachte Geflüchtete die nigerianische Botschaft
Im Oktober 2012 besetzten aufgebrachte Geflüchtete die nigerianische Botschaft

Foto: Christian Ditsch/Imago

Joseph Koroma versteht bis heute nicht, warum er nach Nigeria abgeschoben wurde – einem Land, in das er nie zuvor einen Fuß gesetzt hatte. Als er 2006 nach Deutschland floh, stellte er einen Asylantrag und erzählte seine Fluchtgeschichte: Er sei in Sierra Leone verfolgt worden, von Anhängern des Poro-Geheimbundes, der in Westafrika ganze Landstriche kontrolliert. Sie töteten seinen Vater und drohten ihn ebenfalls zu ermorden, falls er dem Bund nicht beitrete.

Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag ab. Unter anderem bezweifelten die Beamten, ob Koroma wirklich aus Sierra Leone komme. Er stellte einen Folgeantrag und legte neue Belege seiner Verfolgung vor, unter anderem einen aktuellen Zeitungsartikel, der seinen Fall aufgriff. Doch auch der Folgeantrag wurde abgelehnt, Koroma klagte – und verlor. Nach Ansicht des zuständigen Gerichts könne man in Sierra Leone problemlos Zeitungsartikel lancieren.

Nun war er ausreisepflichtig, aber ohne Pass. Also wurde sein Aufenthalt von den deutschen Behörden viele Jahre geduldet – bis seine Identität definitiv geklärt sein würde. Im Jahr 2012 änderten Angehörige der Botschaft Nigerias seinen Geburtsort in den nigerianischen Bundesstaat Ogun – zunächst ohne Koromas Wissen. Ein Jahr später klopften Polizisten an seine Zimmertür. Er solle rasch ein paar Sachen packen, sagten die Beamten, sie würden ihn mitnehmen. Seine Maschine nach Nigeria fliege in wenigen Stunden. Koroma war fassungslos.

Viele Flüchtlinge haben keine Papiere, wenn sie in Deutschland ankommen. Entweder weil sie nie welche besaßen – Pässe werden in vielen Ländern Afrikas nur auf Anfrage ausgestellt. Oder weil sie ihren Ausweis vorher wegwerfen, aus Angst, schneller abgeschoben zu werden.

Für die Geflüchteten bedeutet das, dass sie im rechtlichen Nirgendwo existieren. „Vogelfrei“ nannte Hannah Arendt diese Heimatlosen, weil sie offiziell zu keinem Staat gehören und daher nur eingeschränkte Bürgerrechte genießen. Für die deutschen Behörden hingegen sind diese Personen vor allem ein Problem, denn in manche Länder sind keine Abschiebungen möglich – weil dort Gefahr für Leib und Leben droht oder weil das Land keine Pässe ausstellt. Ungeklärte Staatsangehörigkeit ist das häufigste Abschiebehindernis. Deswegen hat sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rückführung“, eine Art Thinktank für innovative Abschiebepraktiken, vor einigen Jahren eine Methode einfallen lassen, die Abschiebungen auch ohne gesichertes Wissen über die Herkunft der Flüchtlinge ermöglicht: Massenanhörungen durch Botschaftsangehörige vermuteter Heimatstaaten.

Dubiose Verhöre

Die Bundespolizei und die Ausländerbehörden lassen seit Jahren Beamte aus afrikanischen Staaten einfliegen, die in den oft nur wenige Minuten dauernden Gesprächen mit den Betroffenen entscheiden, ob es sich um einen Bürger ihres Staates handelt. Wenn sie das glauben, stellen sie einen Passersatz aus, das „Emergency Travel Certificate“. Wenn nicht, geht die Identitätssuche weiter. Die Flüchtlinge müssen sich an den Befragungen beteiligen. Asylbewerber sind in Deutschland gesetzlich verpflichtet, „an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken“.

Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2014. Damals fanden nach Auskunft der Bundespolizei 50 Massenanhörungen mit Vertretern 18 afrikanischer Staaten statt. Insgesamt wurden 720 Flüchtlinge befragt, also im Durchschnitt mehr als zehn pro Termin. Dazu kommt eine unbekannte Zahl von Anhörungen, die die Bundesländer organisieren. Die „Erfolgsquoten“ variieren: Bei Anhörungen durch nigerianische Delegationen wurde etwa die Hälfte der Vorgeführten zu Staatsbürgern erklärt, bei der Botschaft Benins sind es drei von vier Geflüchteten.

Das Verfahren ist alles andere als seriös. Von den Sammelverhören dringt nur wenig nach außen. Oft finden sie an schwer zugänglichen Orten statt, beispielsweise auf dem Münchner Flughafengelände. Weder Anwälte noch Dolmetscher dürfen die Betroffenen begleiten. Bevor die Vorgeladenen zur Delegation gelassen werden, werden sie durchsucht und ihre Sachen beschlagnahmt. Drei bis fünf Minuten dauern die Anhörungen in der Regel, Gesprächsprotokolle gibt es nicht. Ausländische Beamte, deren einzige Qualifikation darin besteht, im Dienst ihrer Regierung zu stehen, werden ad hoc zu Staatsangehörigkeits-Experten, die jemandes Identität via Sichtkontakt und Kurzinterview ermitteln sollen. Viele Flüchtlinge verlassen das Verhörzimmer und wissen nicht einmal, was gerade passiert ist.

Der Rechtsanwalt Michael Wanke-Lasom kennt solche Fälle gut. Er vertrat Koroma bis zu seiner Abschiebung und spricht von „reiner Behördenwillkür“. Aufschluss über die Staatsangehörigkeit könnten nur eine Geburtsurkunde oder vergleichbare amtliche Dokumente geben, aber „in keinem Fall ein bloßes Gespräch“. Auch die Rechtsanwältin Vera Kohlmeyer-Kaiser vertritt diese Einschätzung: Sie spricht von „erdachten Wahrscheinlichkeiten“, die so nah wie möglich an die Wahrheit heranreichen sollen, um der Öffentlichkeit das Bild eines seriösen Verfahrens zu vermitteln.

Zu den Leidtragenden dieser Praxis gehört Koroma, den die Ausländerbehörde partout zum Nigerianer machen wollte. Dabei hatte zuvor die Sprachanalyse des Bundesamtes noch bestätigt, dass seine Identität als Sierra Leoner durchaus wahrscheinlich ist. Trotzdem schickte ihn die Ausländerbehörde zu einer Sammelanhörung der diplomatischen Vertretung Nigerias, um seine Identität feststellen zu lassen. „Sie fragten mich landesspezifische Dinge über Nigeria“, erinnert er sich. „Ich sagte ihnen nur, dass ich nicht weiß, was sie von mir wollen, weil ich nicht aus Nigeria bin.“ Koroma verteidigte vehement seine sierraleonische Herkunft. Nach wenigen Minuten wurde er aus dem Raum geschickt.

Drei Monate später soll er noch einmal vor einer nigerianischen Delegation erscheinen. Koroma weigerte sich dort erneut, sich als Nigerianer auszugeben. Was Koroma zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Seine neue Identität stand für die Behörden bereits nach der ersten Anhörung fest. In seinem Passersatzpapier steht später, dass er sich selbst als Nigerianer bezeichnet habe.

Auch Yusupha Jarboh aus Gambia geriet unter die Räder der deutsch-nigerianischen Abschiebekooperation: Er wurde 2013 von nigerianischen Beamten als Nigerianer eingestuft und abgeschoben, nach 19 Jahren in Deutschland. Der Grund war offenbar, dass in seinem Handy, das Polizisten vor dem Verhör beschlagnahmten, eine nigerianische Nummer gefunden wurde.

Mehrere deutsche Gerichte haben das Gebaren der Abschiebebehörden im Rahmen der Passersatzbeschaffung bereits bemängelt, bis zur höchsten Instanz hat sich aber noch niemand geklagt. Das Verwaltungsgericht Lüneburg urteilte im Jahr 2008, dass die Praxis „erheblichen rechtsstaatlichen Zweifeln unterliegt“ und „nicht im Ansatz geeignet sei, eine Staatsangehörigkeit festzulegen“. Das Verwaltungsgericht Bremen kam 2010 zu dem Schluss, dass „eine Staatsangehörigkeit sich nicht anhand von Kopfform und Sprache feststellen“ ließe und stoppte die Vorladung eines Flüchtlings vor sierraleonische Vertreter.

Finanzielle Interessen

Das Lüneburger Gericht kritisierte, dass eine Delegation die Kopfform von Flüchtlingen inspiziert hatte, um ihre Herkunft zu ermitteln. Das geschah auch Koroma, dem der Delegationsleiter bei der ersten Anhörung bescheinigte, er sehe aus wie jemand aus dem nigerianischen Bundesstaat Ogun, woraufhin er seinen Geburtsort änderte. Bundespolizisten saßen daneben und schwiegen.

Offiziell äußert sich die Bundespolizei nicht zu diesem Fall. Die Praxis der Botschaftsanhörungen aber verteidigt sie wortreich. Es sei keine Seltenheit, dass ausreisepflichtige Ausländer widersprüchliche Angaben zu ihrer Identität machten, um ihre Identität zu verschleiern, sagt ihr Sprecher. Daher sei die Mithilfe mutmaßlicher und tatsächlicher Herkunftsstaaten nötig. Auch die Bundesregierung will an der Praxis festhalten. Sie erklärte schon 2011 in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, dass die Anhörungen „oftmals die einzige Möglichkeit darstellen, die Nationalität der Ausreisepflichtigen festzustellen“.

Doch das Verfahren ist nicht nur fehleranfällig. Es gibt auch Interessenkonflikte. Die Botschaftsangehörigen bekommen nämlich Geld, wenn sie eine Abschiebung ermöglichen. Für Deutschland kommt das günstiger als die monatelange Duldung der Flüchtlinge.

Die Zusammenarbeit mit der nigerianischen Botschaft gestaltete sich lange Zeit schwierig, bis den Mitarbeitern eine Kostenerstattung für die Anhörungen versprochen wurde: 250 Euro pro Vorladung, weitere 250 Euro für eine Identifizierung inklusive Ausstellung des Reisepapiers. Benins Angestellte erhalten jeweils 300 Euro. Die unterschiedliche Höhe wird offiziell damit begründet, dass es sich um Gebühren der jeweiligen Botschaft handele und Deutschland darauf keinen Einfluss habe.

2011 stoppte das Verwaltungsgericht Magdeburg die Abschiebung eines Flüchtlings, weil es Hinweise gebe, dass die sierraleonischen Vertreter „gegen Bezahlung tätig werden und möglicherweise Gefälligkeitsbescheinigungen ausstellen“. Auch andere Gerichte schlossen sich solchen Zweifeln an. Aber kaum eine Abschiebung wurde deswegen gestoppt.

Für nigerianische Beamte werden inzwischen keine Abschiebeprämien mehr gezahlt. Die Linkspolitikerin Ulla Jelpke erklärt sich das damit, dass versucht werde, ein wenig „den Ruch des Korrupten loszuwerden.“ Zudem stieg der öffentliche Druck auf die nigerianische Botschaft: Die Flüchtlingsorganisation The Voice organisiert seit Jahren Proteste gegen die beschleunigten Abschiebeverfahren. Im Jahr 2012 besetzte eine Gruppe sogar die nigerianische Botschaft.

Trotzdem gibt es noch die Abschiebekooperation. Rex Osa von The Voice sieht einen beiderseitigen Vorteil: Die deutschen Behörden seien „verzweifelt, weil sie nicht wissen, was sie mit den Flüchtlingen machen sollen“. Die nigerianische Seite erhoffe sich eine engere Partnerschaft mit der stärksten Volkswirtschaft Europas. Die Botschaft funktioniere mittlerweile wie eine Art Schleuse zwischen der Bundesrepublik und dem afrikanischen Kontinent, durch die schwarzafrikanische Flüchtlinge im Schnellverfahren hinausbefördert werden, sagt Osa.

Abseits der zweifelhaften Verfahren der Identitätsfeststellung stellt sich die Frage, ob es vertretbar ist, ausgerechnet Nigeria zu einem der wichtigsten Abschiebungsziele Afrikas zu machen. Im Jahr 2012 wurde eine Absichtserklärung zwischen Deutschland und Nigeria unterzeichnet, welche den Ablauf der Anhörungen festlegt und den gemeinsamen Willen zur Zusammenarbeit bekräftigt. Auch Frontex lobt die enge Kooperation mit Nigeria, es gibt ein Arbeitsvertrag gegen „illegale Migration“.

Dabei ist die Lage in dem afrikanischen Land instabil. Seit Ende 2010 verübt die islamistische Miliz Boko Haram regelmäßig Anschläge auf die Bevölkerung. Auch den staatlichen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen, brutale Misshandlungen und Folter vorgeworfen. Die Botschaft der Republik Nigeria möchte auch auf wiederholte Anfrage keine Stellung beziehen.

Koroma hat Nigeria mittlerweile verlassen und ist zurück nach Sierra Leone gegangen. Als er 2013 in ein fremdes Land abgeschoben wurde, ohne Geld, wollte er schnellstmöglich weg. Freunde, ebenfalls Flüchtlinge, sammelten von Deutschland aus Spenden, damit er sich ein Flugticket in sein Heimatland besorgen konnte. Am Telefon berichtet Koroma heute von seiner schwierigen Lage. Er lebe unter ständiger Angst. Sein Rechtsanwalt hat alles versucht, ihn nach Deutschland zurückzuholen – ohne Erfolg. Die Akte ist geschlossen.

Daniel Mützel ist freier Journalist und hat für diese Geschichte monatelang recherchiert

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