Gedanken zur anstehenden Wahl des Abgeordnetenhauses Teil 1

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Ich muss zugeben, meine Wahlentscheidungen immer häufiger "aus dem Bauch heraus" zu treffen. Im Vorfeld dieser Wahl habe ich an einer Programmdiskussion der Linkspartei teilgenommen. Die Atmosphäre dort war offen und freundlich. Auch ich kam zu Wort, ohne mich groß ausweisen zu müssen. Trotzdem habe ich mir später nicht die Mühe gemacht, das endgültige Wahl-Programm durchzulesen.

Zum Favoriten Klaus Wowereit

Auch ich neige dazu, ihm meine Stimme zu geben. Dabei habe ich sein Wirken als Oberbürgermeister in den letzten zwei Legislaturperioden kaum verfolgt. Die Last der Verantwortung hat ihn verändert und er ist dicker geworden. Wahrscheinlich lässt sich ohne ein "dickes Fell" der Stress eines Berufspolitikers nicht durchstehen. Vertrauter wurde er mir durch sein Buch.

Klaus Wowereit (mit Hajo Schumacher):
"...und das ist auch gut so!"
Heyne-Taschenbuch 2007

Hier erzählt er äußerst unterhaltsam von seinen Vorfahren, seiner Familie und vor allem von seiner beeindruckenden, willensstarken Mutter, seiner Kindheit und Jugend in Lichtenrade. Ein Berliner spricht, der auch über sich selbst zu lachen versteht. Kritik aus seiner Partei begegnet er genauso fair wie dem politischen Gegner. Vielleicht verdankt er dieser menschlich ansprechenden Geradlinigkeit seine Beliebtheit.

Um die Jahrhundertwende kamen seine Vorfahren aus einem Dorf in Ostpreußen nach Berlin. Sie hatten den Frondienst satt und erhofften sich in Westen Freiheit und sozialen Aufstieg. Zur gleichen Zeit formulierten in ihrer alten Heimat Arbeiter die Idee des Nationalsozialismus. Ihre Fabrikherren und die adligen Gutsbesitzer bevorzugten Arbeitskräfte aus dem benachbarten Polen. Diese arbeiteten für weniger Lohn und waren gewerkschaftlich meist nicht organisiert. Die neuen National-Sozialisten hatten das Vertrauen in den Sieg der sozialistischen Internationale verloren.

Natürlich hat sich auch meine Fantasie mit dem Partygänger Wowereit beschäftigt. In seinem Buch (S. 32f.) erzählt er von den Festen seiner Kindheit:

"Was ich an meiner Familie immer geschätzt habe, war die unbändige Lust am Feiern. In meiner Erinnerung fügen sich die vielen Familienfeste zu einer einzigen langen Kette des Trubels zusammen. Fast immer wurde sonntags bei uns im Garten getafelt. Mutters Kusinen kamen aus Wedding, jede brachte noch Freunde und Bekannte mit. Meine Mutter hatte jeweils schon Tage vorher begonnen, Kuchen zu backen. Sonntags kümmerte sie sich hingebungsvoll um den gewaltigen Schweinebraten. Die Kruste schaffte es allerdings nie bis auf den Tisch. Wir Jungs vertilgten sie noch in der Küche, sehr zum Leidwesen der Köchin. Unsere Familienfeste liefen immer gleich ab: Es wurde viel geschmaust und noch mehr gelacht."

Wowereits kluger Beitrag zur Armutsdebatte

Wowis flapsige Bemerkung, Berlin sei arm aber sexy, hat ihm viel Kritik und Häme eingebracht. Keiner seiner Kritiker hat offenbar sein Buch gelesen. Dort (S. 34 f.) geht er ausführlich darauf ein, wie sehr ihn das Thema Armut in seiner Stadt umtreibt.

"In meiner Kindheit gab es immer wieder Zeiten, in denen das Geld hinten und vorn nicht reichte. Meine Mutter verkaufte dann Teile unseres Grundstücks, das zum Glück mit den Wirtschaftswunderjahren beständig an Wert gewann. Trotzdem gab es Winter, in denen sie die Ölrechnung nur in Raten bezahlen konnte. Monatlich wurde ich zum Kohlenhändler geschickt, um ihm stolz einen 100-Mark-Schein zu überreichen oder aber kleinlaut zu fragen, ob er noch einmal anschreiben könne. Damals habe ich jene Art von Diplomatie gelernt, die mir als Politiker bis heute zugutekommt, auch wenn mancher Parteifreund das anders sehen dürfte. Der Kohlenhändler jedenfalls hat, wenn auch knurrend, immer in die Stundung eingewilligt, weil er wusste, dass Hertha (seine Mutter) die Rechnung bis zum nächsten Winter abstottern würde. Ich denke, er hatte einfach Mitleid mit uns.

Nach heutigen Maßstäben hätte die Familie Wowereit zum "Prekariat" gezählt. Jener von den Wortkünstlern meiner Partei erfundenen Gesellschaftsschicht, deren richtigen Namen man nicht auszusprechen wagt. Prekariat meint: Unterschicht, kleine Malocher, Menschen, die nicht genau wissen, wie sie die nächsten Tage, Wochen, Jahre über die Runden kommen sollen. Berliner, die die Schaufenster vom KaDeWe bestaunen, aber nur selten in ihrem Leben den Mut aufbringen, ein Luxuskaufhaus zu betreten.

Ja, wir waren arm im Vergleich zu den Apothekern, Ärzten und Beamten, die in Lichtenrade wohnten. Aber die Unterschiede waren auch längst nicht so deutlich sichtbar wie heute. Es gab keinen Wettkampf der Markenklamotten, wie er heute auf vielen Schulhöfen üblich ist. Es gab weder Handy noch anderes teures Spielzeug. Jeder hatte ein Fahrrad, ein paar Groschen Taschengeld, die Urlaubsziele befanden sich in Reichweite einer längeren Autofahrt. Wir lagen ökonomisch dicht beieinander. Neid oder Angeberei waren uns fremd. Deswegen fühlte ich mich auch nicht arm oder unterprivilegiert. Im Gegenteil: Meine Kindheit war glücklich, auch wenn ich die Sachen meiner Brüder aufgetragen habe und selbstgestrickte Pullover dazu.

Wir fühlten uns bestimmt nicht prekär oder ausgegrenzt. Wir hatten ein Haus, genug zu essen und sogar ein Auto, den Opel P2 von Gustav. Und wir hatten uns. Dass wir über die Runden kamen, hatte viel damit zu tun, dass meine Mutter mit Geld umgehen konnte. Sie war eine knallharte Ökonomin. Das hatte sie von ihrem ersten Mann gelernt, der aus einer Neukönner Kohlenhändlerfamilie stammte. Als Herbert Grüner in den Krieg zog, hat meine Mutter den Laden praktisch allein weitergeführt. Aber mit den Grüners wurde sie nicht warm. Als ihr klar wurde, dass ihr Mann nicht zurückkommen würde, verabschiedete sie sich.

Mochten wir Wowereits aus Lichtenrade, gemessen an unserem Familieneinkommen, auch zum unteren Drittel gehören, so waren meine Mutter, meine Geschwister und ich doch immer überzeugt, dass es uns eines Tages besser gehen würde. Armut ist dann ein halbwegs erträglicher Zustand, wenn der Mensch die Aussicht und den Willen hat, sich daraus aus eigener Kraft zu befreien.

Manchmal wundere ich mich schon, wenn ich höre, wofür die Budgets der kleinen Leute heute so ausgegeben werden. Wenn man 80 Euro im Monat für Zigaretten ausgeben kann, noch mal so viel für Lotto und Alkohol, für Bezahl-TV, Tele-Shopping und Handy-Gebühren, dann frage ich mich, ob das, was wir manchmal Armut nennen, nicht auch ein wenig mit der verloren gegangenen Fähigkeit zu disziplinierter und mathematisch korrekter Haushaltsführung zu tun hat.

Wer mit Geld nicht umgehen kann, dem ist mit einer Erhöhung der Sozialhilfe nur wenig gedient. Praktische Ökonomie sollte in der Schule viel umfassender gelehrt werden. Die Armutsdebatte wird mir hier in Deutschland ohnehin viel zu oberflächlich geführt. Wirklich arm sind Menschen, die morgens nicht wissen, wie sie bis zum Abend ihre Kinder satt bekommen sollen. Die kein Dach über dem Kopf haben, sondern bestenfalls Pappe oder eine löchrige Plane. Die krank sind und keinerlei medizinische Versorgung erhalten. Die keine Aussicht darauf haben, jemals menschenwürdig zu leben.

Diese existentielle Form der Armut ist in Deutschland selten. Hierzulande, vor allem in Berlin, haben wir es mit relativer Armut zu tun. Mit Menschen, deren Haushaltseinkommen deutlich unter dem durchschnittlichen der Bevölkerung liegt. Manchmal sogar unter dem Sozialhilfesatz. Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern der Welt kämpfen unsere Armen nicht täglich um Leben und Brot, sondern eher um Menschenwürde und Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben.

Wer sich keine Kino- oder Theaterkarte leisten kann, vielleicht nicht mal eine anständige Tageszeitung, den führt die ökonomische Armut geradewegs in die kulturelle Armut. Menschen ziehen sich zurück und verabschieden sich leise aus der Gesellschaft. Sie haben ein Dach über dem Kopf. Zu essen und ein Minimum an gesundheitlicher Versorgung, aber sie betrachten sich nicht mehr als Teil unseres demokratischen Gemeinwesens. Relativ arme Menschen in Deutschland fühlen sich als Außenseiter, diskriminiert, ausgegrenzt und abgehängt. Sie wählen nicht mehr, vereinsamen und entwickeln oftmals eine lähmende Depression. Armut bedeutet auch das Verschwinden von Energien, die früher einmal vorhanden waren. Genau diese Lähmung ist es, die mir Sorgen bereitet. Ob wir diese Menschen mit politischen Maßnahmen, mit Gesetzen, Kürzungen oder Drohungen so einfach zurückgewinnen können, wage ich sehr zu bezweifeln. Unsere Aufgabe als Politiker ist es, Perspektiven und Wege aufzuzeigen, auf denen jeder, der will, sich hochrackern kann. Fleiß, Anstrengung und Willenskraft müssen sich lohnen."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Schneider

Dr. Daniel Schneider ( Jahrgang 1944 ), konservativer Anarchist, Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie.

Daniel Schneider

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