Das Leben der Amerikaner

Schnüre In Siri Hustvedts neuem Roman "Das Leiden eines Amerikaners" finden zwei Kinder die Notizen ihres toten Vaters

Hatten Siri Hustvedts erste Romane Die unsichtbare Frau (1992) und Die Verzauberung der Lily Dahl (1996) nur eine Kultgemeinschaft von Lesern angezogen, wurde ihr letztes Buch Was ich liebte (2003) zu einem weltweiten Erfolg, der viele überraschte. Schließlich hatte die 52-jährige Autorin aus Brooklyn in der Geschichte um den jüdischen Kunsthistoriker Leo Hertzberg, der seinen einzigen Sohn bei einem Feriencamp-Unfall verliert, so massentaugliche Themen wie Georges Didi-Hubermans Theorie der Hysterie verarbeitet.

Auf der Oberfläche wirken Hustvedts Bücher wie mysteriöse Detektivgeschichten, die den Leser durch ihre kriminalistische Logik und ihre luzide Sprache in den Bann ziehen, womit sich ein Großteil ihrer Popularität erklärt. Idealerweise aber erfordern sie ein langsames Lesen, das sich gegen diesen Erzählsog stemmt. Sonst läuft man Gefahr, Hustvedts Einblicke in die Untiefen der menschlichen Psyche zu übersehen. Wenn es ein Leitthema in ihrem Werk gibt, dann sind es die Verzweigungen der Sprachlosigkeit, die uns in den emotionalen Extremsituationen unseres Lebens befällt - die Schweigsamkeit der Depression, die Stummheit unseres Begehrens oder die Wortlosigkeit der Trauer.

Auch der neue Roman Die Leiden eines Amerikaners, in dem Erzähler Erik Davidsen, ein Brooklyner Psychotherapeut, seine Erinnerungen an "das Jahr der Geheimnisse" nach dem Tod seines Vaters in Minnesota niederschreibt, arbeitet nach diesem Prinzip. Im Schreibtisch ihres Vaters, der jedes Dokument akribisch aufgehoben und sortiert hat, finden Erik und seine Schwester Inga, beide um die fünfzig, einen Brief, der das tote Familienoberhaupt mit einem ungeklärten Todesfall in Verbindung bringt. Inga ihrerseits wird von einer reißerischen Journalistin verfolgt, die kompromittierende Informationen über ihren verstorbenen Ehemann, einen bekannten Schriftsteller, zu haben scheint.

Eriks Trauerjahr stellt gleichzeitig das Jahr nach dem Ausbruch des Irakkrieges dar, der zusammen mit den Erlebnissen des 11. Septembers in den Gesprächen und Erinnerungen von Hustvedts Protagonisten immer wieder auftaucht. Und genau darin, wie sie diesen politisch-gesellschaftlichen Kontext ventiliert, besteht die beeindruckendste Leistung von Hustvedts Romans. Virtuos stimmt sie die inneren Geographien ihrer Helden auf die äußeren ab, mit dem Resultat, dass man Die Leiden eines Amerikaners als "Die Leiden der Amerikaner" lesen kann; der Roman zugleich das Portrait eines depressiven Mannes und die feinfühlige Beschreibung einer traumatisierten amerikanischen Kultur ist, ein Psychogramm amerikanischen Lebens unter der Bush-Regierung.

Man weiß, dass Die Leiden eines Amerikaners aus der Trauer um dem Tod von Hustvedts Vaters, dem Norwegisch-Professor Lloyd Hustvedt, entstanden sind. Zu diesem Zweck traf sie die Entscheidung, Teile seiner Tagebücher von der amerikanischen Pazifikfront während des Zweiten Weltkriegs als Notizen von Eriks und Ingas Vater camoufliert in den Roman zu übernehmen. Das klingt arg persönlich. Doch für Hustvedt handelt es sich bei diesen Tagebucheinträgen um nichts weniger als Versatzstücke einer Reihe kollektiver Traumata - neben der schmerzhaften Immigrationserfahrung oder der lebensbedrohlichen Armut zur Zeit der wirtschaftlichen Depression der 1930er Jahre - über die ihre Eltern- und Großelterngeneration nie hatten sprechen können und dadurch an die nächste Generation weitergaben.

Das sanft nachdrückliche von Hustvedts Prosa tut ein Übriges, um ihre implizite These, dass solche Traumata durch unausgesprochene Konflikte, durch Gesten oder Stimmungen der Eltern vererbt werden, plausibel zu machen. Die expertisereichen Referenzen des Psychoanalytikers Erik auf Traumaforschung und Neurobiologie machen deutlich, dass Hustvedt dieses Phänomen akribisch recherchiert hat. Erik wird von einer ähnlichen Schlaflosigkeit geplagt wie sein Vater. An dessen starren Körper, den barschen Ton, mit dem er ihm einmal befohlen hatte, die Militäruniform an ihren Platz zurückzulegen, die er zufällig auf dem Dachboden gefunden hatte, erinnert er sich sein Leben lang.

In den berührendsten Szenen des Romans setzen sich so auch Eriks Nichte Sonia und Egaltine, die Tochter seiner Nachbarin, mit den Geheimnissen von Eltern und Politik auseinander. Eggy zum Beispiel beginnt gegen Ende des Romans, sich die Zeit mit der Produktion kleiner Installationen aus Schnüren zu vertreiben, mit denen sie obsessiv Möbelstücke und Menschen umwickelt und, dabei konkreten Sinn für sich schaffend, Unzusammenhängendes miteinander verbindet. (Eine der schönsten Aspekte des Werks der gelernten Kunsthistorikerin Hustvedt, die neben ihren Romanen auch drei Bände mit kulturtheoretischen und kunsthistorischen Essays verfasst hat, ist übrigens die Beschreibung imaginärer Kunstwerke, die so spannend klingen, dass sie unbedingt einmal produziert werden sollten.)

Sonia versucht das Chaos, das sie nach ihren Erlebnissen während der New Yorker Terroranschläge und dem Tod ihres Vaters empfindet, mit einem zwanghaften Ordnungswahn auszugleichen. Hustvedt geht es in Die Leiden eines Amerikaners unter anderem um die Auswirkungen des Irakkriegs, des 11. Septembers und der Politik der Bush-Regierung auf die zukünftigen Amerikaner. Konsequent zeigt sie, dass es diese kollektiven Traumata sind, die lange in den Leben der nächsten Generation nachklingen werden. Der Roman könnte kaum aktueller sein in einem Wahljahr für die amerikanische Präsidentschaft, in dem nicht nur in Amerika, sondern auch international die Bilanz einer ganzen Dekade gezogen wird. Vielleicht liest sich Hustvedts Bilanz deswegen so beklemmend wie authentisch - trotz aller Verschlüsselung.

Hustvedt steht in ihrer Auseinandersetzung mit den Stimmungen und Komplexen, die unter der Sprache unseres alltäglichen Lebens brodeln, einzigartig in der amerikanischen Gegenwartsliteratur, deren gepriesene Erzählkunst sich nur allzu oft auf den Stoff und die Spannung des Freizeitgeschmacks verlässt. Sie stellt diesem vordergründigen Mainstream nicht nur eine vollkommen unprätentiöse, trotzdem aber tiefgreifende Intellektualität entgegen, sondern auch eine Prosa von beeindruckend schlichter, stilistischer Eleganz. Die Leiden eines Amerikaners ist von jener seltenen Symbiose packender Erzählkraft mit weitsichtiger gesellschaftlicher Analyse, die einen epochalen Roman ausmacht.

Siri Hustvedt Die Leiden eines Amerikaners. Roman. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Gertraude Krüger. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2008, 416 S., 19,90 EUR

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