Er sieht genauso aus, wie man sich ihn vorstellt: In GAP-Sakko und Jeans, ein bisschen verträumt, ein bisschen Macho und ein bisschen Rock´n´Roll. Jonathan Lethem kommt unprätentiös daher. Seine Lesung in der Brooklyn Academy of Music, Brooklyns einzigartigem Gastspielhaus für Theater, Oper und Tanz, bildet den Höhepunkt der edlen Lesereihe, die das BAM in Zusammenarbeit mit der Jury des National Book Award organisiert. Hier trifft Amerikas literarische Elite bei Klavierbegleitung, Seafood-Paella und Weißwein auf das New Yorker Publikum.
Für Lethem ist es ein Heimspiel. Schließlich hat er mit seinen Romanen Motherless Brooklyn" (Freitag 9/2002) und Die Festung der Einsamkeit Brooklyn selbst zu einer literarischen Figur gemacht und dem vielseitigen New Yorker Stadtteil zwischen East River und Atlantikküste - von seinem Hippsterviertel Williamsburg und den hispanischen sowie schwarzen Enklaven in Bedford-Stuyvesant über die polnischen und hassidischen Gebiete von Fort Greene und Greenpoint, die russischen Nachbarschaften in Brighton Beach, die zerfallene Vergnügungspark-Ästhetik von Coney Island bis zur bürgerlichen Brownstone-Idylle von Park Slope - ein belletristisches Profil voller Schönheit und Melancholie verliehen. Das Genre, dem Lethem damit zur Renaissance verholfen hat, treibt in der derzeitigen amerikanischen Literatur wie kein anderes seine Blüten: der Brooklyn-Roman.
Früher war es der New-York-Roman. Lange bevor er zu einem Label wurde, das von den Verlagen verkaufsstrategisch jedem Buch aufgestempelt wurde, das in Manhattan spielt, hatte er einen festen Platz in den Literaturen der Amerikaner und der von Amerikasehnsucht geplagten Europäer inne. John dos Passos lieferte mit Manhattan Transfer, einem der geschliffensten Diamanten der literarischen Hochmoderne, das mosaikartige Sittenbild einer in die Höhe schießenden Stadt. Uwe Johnson schrieb mit seinen Jahrestagen den zeitlosen Roman über New York, dessen atmosphärische Stimmungsgeladenheit und politische Reichweite alle anderen New-York-Romane beinahe überflüssig gemacht hätte. Paul Auster erkundete in seiner New York Trilogie die urbane Topographie der Wolkenkratzerinsel mit der stillen Präzision eines postmodernen Meisterdetektivs. Viel wurde seitdem von der "Idee New Yorks" geredet, und jede Buchsaison ein neuer, halbgarer Roman beworben, der das Bild von der Mutter aller Städte ins Bewusstsein rufen sollte. Zumeist vergeblich.
Vielleicht hat es die Manhattan-Müdigkeit, die sich unter New Yorkern breit macht, schließlich in die Literatur geschafft. Vielleicht hat der Alltagsmythos von Manhattan als Stätte des modernen Lebens nach Jahrzehnten metaphorischer Abnutzung schlichtweg seinen Glanz eingebüßt. Fehlte es zwischen Harlem und der Lower East Side noch nie an farbenprächtigen Charakteren, evokativen Schauplätzen und skurrilen Erlebnismöglichkeiten - alles in allem der Stoff, aus dem Romane gestrickt werden - evozieren die neueren New-York-Romane nur noch fahle Abziehbilder der ehemals so vibrierenden Stadt. Es ist so, als wäre Manhattans Imaginäres mit seiner kreativen Klasse davon gelaufen und, von den Reichen und Ehrgeizigen vertrieben, ins Arbeiterviertel Brooklyn ausgewandert. Tatsächlich weist Brooklyn heute Amerikas größte Konzentration an Literaten auf, darunter Autoren wie Paul Auster, Siri Hustvedt, Jonathan Safran Foer, Nicole Krauss oder Colson Whitehead.
Dass zu New York immer auch der Mythos New York gehörte, beschrieb Joan Didion bereits Mitte der Sechziger. Für Amerikas Intellektuellen-Darling war New York vor allem eine unendlich romantische Idee. Auch nach achtjährigem Aufenthalt schien ihr Manhattan eine glamouröse und verderbliche Abstraktion, ein mysteriöser Nexus von Liebe, Geld und Macht. Nach der Einsicht, dass man in einer Fantasie nicht leben kann, zog Didion für ein paar Jahre nach Los Angeles. Die meisten neueren New-York-Romane sind der Idee verfallen, dass man in der urbanen Fantasie "Manhattan" doch leben könne. Weder sind sich diese Romane bewusst, dass der Mythos, der in ihrem Zentrum steht, tatsächlich eben ein Mythos ist, noch schreiben sie die Chronik der Veränderungen, die Manhattan in den vergangenen zehn Jahren durchlaufen hat.
Jason Starrs neuer Roman Twisted City etwa, hält nach der guten Krimi-Manier, mit der sich Starr einen Namen gemacht hat, tatsächlich jede Menge Twists bereit. Aber die "City" bleibt ein fadenscheiniger Vorwand und wirkt wie eine allzu oft benutzte Filmkulisse. David Miller, inzestuös Liebender, zweitklassiger Journalist und Held des Romans, wird in Twisted City nach bewährter Logik des unaufhaltbaren Absturzes unfreiwillig in eine Mordgeschichte im East Village verwickelt. Starr bemüht sich mächtig, die Nachbarschaft in ihren grimmigen Farben zu zeichnen, die sie in den Achtzigern und frühen Neunzigern tatsächlich einmal hatte. Damals war das East Village gleichbedeutend mit einer subkulturellen Schattenwelt von Drogen, Prostitution und Kriminalität. Aber schon um die Jahrtausendwende, zu der dieser Roman spielt, war das Viertel so aufgeräumt, yuppiesympathisch und massenverträglich, dass man lange nach dem Heroinsumpf hätte suchen müssen, den Starr beschreibt. Sein Krimi wäre glaubwürdiger, spielte er in Baltimore, Philadelphia oder Detroit - oder in Brooklyn, wo Jason Starr selbst schon seit langem lebt.
Das vertraute Textgewebe "Manhattan", aus unzähligen Fantasien, Erfahrungen und Projektionen gestrickt, hat immer schon exzentrischen Charakteren den Vorzug gegeben, die ex-zentrisch sein konnten, gerade weil Manhattan so zentral ist. Das imaginäre New York schien vor allem von eigenbrötlerischen Flaneuren und von Glamour-Queens bevölkert. In diese beiden, längst schon zu Klischees gewordenen Extreme fallen auch Gwen und Gideon, die Protagonisten von Fernanda Eberstadts Roman Liebeswut. Vom Verlag wird das Buch als "großer New-York-Roman und große Liebesgeschichte" gefeiert und gar in eine Reihe mit Jonathan Franzen oder Don DeLillo gestellt. "Groß" jedoch ist an diesem Buch nur die Seitenzahl: 686.
Gwen soll eine erfolgreiche Upper-West-Side-Lady sein und Gideon ein Puppentheatermacher von der Lower East Side, am Rande des Existenzminimums für seine Kunst lebend. Der selbstgefällige Erzählton, der sich gänzlich unironisch der Coolness seiner Schauplätze versichert, ohne sie genauer als auf Postkartenmotiven zu beschreiben, macht den Roman dabei fast noch unlesbarer als seine schablonenhaften Helden mit ihrem suizidalen Paarungsdrang. Die teure Fotokulisse ihres Romans scheint für Eberstadt auszureichen, um die Figuren zu charakterisieren. Dabei funktionierte die literarische Bildwerdung der Insel Manhattan schon immer anders herum: Es waren die Portraits ihrer Bewohner, die der Stadt ihre Farbe und ihren Glanz verliehen.
Während die Oberfläche des Mythos "New York" mittlerweile zerkratzt scheint, bastelt die zeitgenössische amerikanische Literatur an einem Alltagsmythos "Brooklyn", der eine Sexiness und Farbenpracht versprüht, wie man sie von den Glasfassaden Manhattans nicht gewöhnt ist. Der Schwerpunkt der in allen Brooklyn-Romanen wiederkehrenden Idee "Brooklyn" liegt dabei vor allem auf einem Multikulturalismus, der besser funktioniert als sein gutgemeinter Counterpart im alten Europa. Auf den Seiten der Brooklyn-Romane läuft man karibischen Hausfrauen ebenso über den Weg wie hassidischen Juden, polnischen Bäckern, jamaikanischen Drag-Queens, schwarzen Immobilienhaien und weißen Buchhändlern. Scheint das literarische Textgewebe Manhattans zu großmaschig, um die Figuren des Unspektakulären oder der Mittelklasse aufzufangen, treten sie in Brooklyn mit einer jahrelang aufgestauten Energie auf die Bildfläche.
Paul Austers Brooklyn-Revue zum Beispiel, entwirft den Stadtteil als das urbane Lebensidyll für eine gebildete Mittelklasse, die eine Alternative zum obszönen Reichtum Manhattans und zum Spießertum der Suburbs anstrebt. Ein abgehalfterter Versicherungsagent und rekonvaleszenter Krebspatient wie Austers Protagonist Nathan Glass kann sich hier eine Ersatzfamilie aufbauen, die ihn glücklicher macht, als es seine tatsächliche Familie je konnte. Italienische Großmütter kommen hier mit den lesbischen Coming Outs ihrer Töchter zu Rande, und ehemalige Akademiker finden Zufriedenheit in kleinen Antiquariaten. Austers nach dem literarischen Genre der Follies gearbeiteter Roman hält Verwicklungen bereit, die noch jede Seifenoper in den Schatten stellen.
Dabei schafft es der Roman dennoch, den menschlichen Kern derjenigen bloßzulegen, die die Suche nach dem idealen Ort niemals aufgeben, an dem psychische Innenwelt und lebensumständliche Außenwelt harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Nathan, der Unweise, nennt dieses Ideal des Aufgehobenseins mit der ihm typischen spielerischen Weisheit "Hotel Eden". Während die Wolkenkratzerschluchten Manhattans seine staunenden Subjekte immer nur auf ihr Gefühl der Wurzellosigkeit zurückwerfen, steht Brooklyn bei Auster für eine Idee von Zugehörigkeit und angenommener Heimat, die Menschen mit den unterschiedlichsten Vergangenheiten, Pathologien und Traumata aufzufangen vermag. In Brooklyn fühlt man sich zwar immer noch als Exilant, aber als Exilant, der ein liebgewonnenes Provisorium gefunden hat, das sich mehr als ein Zuhause anfühlt, als jeder andere Ort zuvor.
Verwischt Manhattan seine geschichtsträchtigen Spuren immer wieder aufs Neue und macht sich wie eine alte Dame nach zu vielen Schönheitsoperationen ebenso gesichts- wie geschichtslos, wird Brooklyn von seinen Literaten zumeist als Ort mit einer überaus sichtbaren Geschichte entworfen, die betrauert werden kann und unstillbar nostalgische Sehnsüchte provoziert. Die geschichtsträchtige, architektonische Landschaft Brooklyns bildet die ideale Projektionsfläche für diese virulenten, quasiromantischen Gefühle des Verlusts. Ist Manhattan ein architektonischer Traum der kompromisslosen, sich stets erneuernden Vertikale, scheint Brooklyns Architektur der Bodenhaftung verschrieben, die historische Details fest im Visier behält.
Coney Island etwa, der berühmte, altertümliche Vergnügungspark an der Atlantikküste, zieht Touristen und Brooklyniten gleichermaßen an - vor allem wegen des leisen Zerfalls und der fühlbaren Historizität, die man dort bei jedem Schritt zwischen Varieté-Akten, Imbissbuden, Zirkusnummern, Tätowierkünstlern und der berühmt-berüchtigten Achterbahn auf Holzschienen einatmet.
Sarah Halls historischer Roman Der elektrische Michelangelo, einer von fünf Kandidaten für den letztjährigen britischen Booker-Prize, poliert die Patina dieser Kulisse wieder auf den wolllüstigen Hochglanz, den Coney Island in den Dreißigern und Vierzigern versprühte, als an jedem Sommerwochenende noch Hunderttausende Partysüchtige zum berühmtesten Vergnügungspark der Welt pilgerten. Hall beschreibt Coney Island mit überraschender Intensität als einen Wirbelsturm der Existenzen und als das Zentrum einer nahezu makellos makabren Unterhaltung, das schon zu seiner Glanzzeit jenes Gefühl vermittelte, dass es mit dem Spaß bald vorbei sein würde.
Cyril Parks, britischer Tätowierer und Held von Sarah Halls wortmächtiger Einwanderergeschichte, erwächst dabei als eine Allegorie für den typischen Bewohner von Brooklyn. Während Manhattans Tellerwäschern nach Logik des amerikanischen Traums eine glamouröse Zukunft als Millionär winkt, wird dem Tätowierkünstler schon kurz nach seiner Übersiedelung klar, dass er hier "kein einfacheres Leben erwarten kann, keinen reinen Tisch, keine simplere Version des Schicksals." Dass sich Hall mit ungeheurer Empathie an diese Vorgabe hält, gibt dem Roman trotz seiner historischen Verankerung eine so überzeugende Lebensnähe, dass es eine Freude ist. Der elektrische Michelangelo wird dabei zu einer Ode an das harte Pflaster Brooklyns, das als Ausgleich zu seiner Härte ein einzigartig klares und helles Licht vom hochhauslosen, weiten Himmel anbietet - ein Licht, so Hall, das man auch auf den Bildern der alten holländischen Meister fände.
In der kollektiven Psychologie einer Achtmillionenstadt wie New York ist das Aufkommen von Alltagsmythen wie dem vom quasiparadiesischen Brooklyn umso überraschender, je glaubwürdiger ihn seine Bewohner finden. So endete die Fragerunde bei der Lesung von Jonathan Lethem im BAM mit Zuschauerkommentaren, die vom unverstellten Glauben ans neue Brooklyn erfüllt waren. So war das wichtigste Diskussionsthema dann auch nicht der neue Romanauszug, den Lethem gelesen hatte, sondern die von Frank Gehry entworfenen Mammutbauprojekte, die die Skyline des Stadtviertels und das malerische Bild vieler seiner Nachbarschaften für immer verändern werden und bei den meisten Brooklyniten feurige Proteste hervorrufen. Die Befürchtung wurde laut, dass Brooklyn ein zweitklassiges Abziehbild von Manhattan würde, das die Fehler des dortigen Immobilienbooms wiederholt. Lethem jedoch reagierte mit einem gewissen Unbehagen auf die Nachbarschaftsfolklore. Als einem der Schöpfer des Alltagsmythos Brooklyn war ihm die Ebene der Fabrikation dieses Mythos vielleicht bewusster. Mit ironischem Schmunzeln erklärte er, dass nun schon seit drei Jahrzehnten von den Grauen der Gentrifizierung die Rede sei, nur mit dem Unterschied, dass früher Bewohner über den Wandel ihres Viertels geklagt hätten, die dort schon seit Jahrzehnten lebten. Heute sprächen ihn Brooklyn-Bewohner auf die Gentrifizierung ihrer Wohngegenden an, die erst vor vier Jahren aus Manhattan gekommen seien.
Vielleicht liegt hierin die zentrale Dynamik der Brooklyn-Faszination, von Anwohnern und Literaten gleichermaßen: die Stoßrichtung gegen den imposanten, übermächtigen Nachbarn. Sie ist Ausdruck einer Trauer um die ehemals so lebendige urbane Utopie Manhattans, die von der Finanzwelt gekidnappt und aus der Bahn geworfen wurde. Michael Cunningham, einer der wenigen amerikanischen Autoren, die noch in Manhattan leben, brachte diese Frustration in seinem kürzlich erschienenen Roman Helle Tage auf den metaphorischen Punkt. Der drei Jahrhunderte umfassende New-York-Roman liefert das glaubwürdigste Portrait der Stadt überraschender Weise in seinem letzten Kapitel, das in einer ungefähr 150 Jahre entfernten Zukunft spielt. Elegiker Cunningham entwirft hier einen unendlich melancholischen Nachruf auf die Insel Manhattan. New York heißt hier "Old New York" und ist als Themenpark für Touristen in seiner historischen Charakteristik des frühen 21. Jahrhunderts bewahrt: Der Taschendieb im Central Park ist hier genauso wie der Hippster von der Lower East Side ein in harter Yen-Währung bezahlter Schauspieler im Genre-Kostüm. Cunningham inszeniert nichts weniger als das Bild einer Metropole, die von terroristischen Katastrophen, die im 11. September 2001 nur ihren Anfang nahmen, zerstört wurde und lediglich durch rigorose Planung für ein bezahlendes Publikum am Leben gehalten wird. Manhattan ist hier eine alte Stadt geworden, eine zu Stein erstarrte und totalüberwachte Fantasie des modernen Lebens, eine restaurierte Mythentopographie, die so restlos erschlossen ist, dass kein Raum mehr bleibt für ihren Mythos.
Paul Auster: Die Brooklyn-Revue. Deutsch von Werner Schmitz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, 362 S., 19,90 EUR
Michael Cunningham: Helle Tage. Deutsch von Georg Schmidt. Luchterhand, München 2006, 384 S., 21,95 EUR
Fernanda Eberstadt: Liebeswut. Deutsch von Judith Schwab. Kindler, Reinbek bei Hamburg 2005., 686 S., 24,95 E, TB 9,90 EUR
Sarah Hall: Der elektrische Michelangelo. Deutsch von Peter Torberg. Liebeskind, München 2005., 420 S., 22,00 EUR
Jason Starr: Twisted City. Deutsch von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2005, 336 S., 19,90 E , TB 9,90 EUR
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