Sechseinhalb Jahre hatten sie danach gesucht. Als die New Yorker Literaturkritiker ihn im Mai letzten Jahres endlich in den Händen hielten, den großen 9/11-Roman, folgte die Flut beglückter Empfehlungen, Rezensionen und Autorenportraits auf dem Fuße. Dabei setzt sich Joseph O’Neills Niederland nur oberflächlich mit den Geschehnissen des Terror-Tages auseinander. Und mit der schon längst zwanghaft gewordenen, symbolisch überfrachteten Suche nach dem Alles erklärenden Septemberroman hat das Buch erst recht nichts zu tun.
Liest man den mit dem Faulkner-Award ausgezeichneten Roman nun ein knappes Jahr später, würde man ihn wahrscheinlich eher für das nehmen, was er ist: Ein großer Gesellschaftsroman, der mit dichter Atmosphäre, komplex, intelligent und mit luzider Sprache von einer kaum zurückliegenden Zeit erzählt, die schon fast wie Geschichte wirkt.
Jenem sonnigen und schreckensgeladenen Dienstag im September widmet O’Neill nur ein paar Szenen. Das schreckliche Ereignis sorgt dafür, dass die Kleinfamilie des holländischen Wall Street-Analysten Hans van den Broek ihre Zelte im schicken TriBeCa, einem Stadtviertel in der Nähe der ehemaligen Zwillingstürme, abbrechen muss und in eine leicht abgewrackte Wohnung im Chelsea Hotel zieht.
Die Ereignisse beschleunigen auch das beginnende Zerwürfnis zwischen Hans und seiner britischen Ehefrau Rachel, der Amerikas politischer Rechtsruck Grund genug ist, zusammen mit dem dreijährigen Sohn Jack das Land zu verlassen. Indirekt sind sie so für die Melancholie von Hans verantwortlich, seinen Hang zur Introspektion. Letztlich begünstigen sie seine beginnende Freundschaft zum indischstämmigen Einwanderer Chuck Ramkissoon aus Trinidad, den er beim gemeinsamen Kricket-Spielen kennen lernt.
Eine Leiche im Kanal
Chuck, ein sympathischer Kleinkrimineller mit großen Ambitionen, ist auf eine Weise lebendig, die Hans fremd ist. Er besitzt eine Reihe von kosheren Sushi-Imbissen und illegalen Wettbüros. Sein größter Traum ist der Bau eines Kricket-Stadiums am Rande Brooklyns und die Erhebung des Einwanderersports zum amerikanischen Nationalheiligtum. Doch als sich Hans, fünf Jahre danach und wieder zurück in London, an die Zeit mit ihm erinnert, ist die Leiche seines Freundes schon längst im Gowanus, einem Kanal in einem alten Brooklyner Industriegebiet, geborgen worden.
Hans und Rachel waren 1998 nach New York gezogen, nur für ein paar Jahre, weil es das Richtige für einen Londoner Banker und eine erfolgreiche Wirtschaftsanwältin schien. Beide hatten den Eindruck, „dass man, um in New York eine Million Dollar zu machen, eigentlich nur die Straße entlang spazieren musste – mit den Händen in den Taschen und in der heiteren Erwartung, dass über kurz oder lang ein Blitz pekuniären Feuers aus der Atmosphäre herabfahren und einen niederstrecken würde.“
Nach dem Versiegen der Dot-Com-Goldgruben, den Terroranschlägen, der sich anschließenden Rezession und dem Einmarsch in den Irak fühlte sich die Stimmung in der Stadt ungleich bedrohlicher an, und dem Autor gelingt es meisterhaft die Auswirkungen dieser Entwicklungen im Privaten, Persönlichen, ja Intimen darzustellen.
Seine subtile Prosa ist von jenen unausgesprochenen Einsichten in das Leben getragen, die durch die Sprache sprechen. Man nehme nur die mehrdeutigen Telefongespräche zwischen dem schließlich getrennt auf verschiedenen Kontinenten lebenden Paar.
Während Rachel auf Anti-Irakkriegsdemos geht, vom Aufkommen einer neuen Weltordnung spricht und nur kurz davor Halt macht, Bush mit Hitler zu vergleichen, wird ihr Mann das Gefühl nicht los, dass das als Grund, nicht nach New York zurückzukommen, nicht ausreicht: „‚Hans, verstehst du das denn nicht? Deine Gefühle und meine Gefühle’ – inzwischen schluchzte sie – ‚stehen da nicht zur Debatte’. Wieder starrte ich aus dem Fenster. Der Schneefall hatte aufgehört. Die Stadt war in eine kalte Toga gehüllt. ‚Hier hat es geschneit’, sagte ich. ‚Jake könnte auf der Twenty-third Street einen Schneemann bauen.’“
Von Holland nach New York
Wie sein Held hat Joseph O’Neill – Jahrgang 1964, Sohn eines irischen Vaters und einer türkischen Mutter – seine Kindheit in Holland verbracht und ist von dort aus weiter nach London und später nach New York gezogen. Vielleicht ist das ein Grund, warum seine Ausführungen über die Stadt eine Tiefe haben, die den meisten zeitgenössischen Romanen, die im Big Apple spielen, fehlt. Und es ist wahrscheinlich dieser komplexe biografische Hintergrund, der ihm seine postkoloniale Klarsicht auf unsere globalisierte Welt mit all ihren Problemen ermöglicht.
Nirgends wird das deutlicher als beim wöchentlichen Kricket-Spielen seines Helden. Als Holländer hat Hans es von der Pike auf gelernt. Seine Vorfahren hatten das Ballspiel auf der ganzen Welt verbreitet. In New York, wo der Sport um die Jahrhundertwende vom Baseball verdrängt wurde, ist er der einzige Weiße unter einer illustren Gruppe von Einwanderern aus Indien, der Karibik und den Antillen, für die es ein Nationalsport ist.
Trotz der gut eine Million New Yorker, die Kricket spielen, geht der Plan des zwielichtigen Entrepreneurs Chuck Ramkissoon für ein nationales Kricket-Stadion nicht auf. In einer Zeit, wo jedes wichtige Spiel aus Indien oder Pakistan per Kabelfernsehen und Internet in Direktzeit übertragen wird, entpuppt sich diese Idee als ein überholtes Konzept.
Chuck, so scheint der Roman zu sagen, repräsentiert den Traum eines ans Ende seiner Träume gekommenen Amerikas. Dass seine Figur an den Großen Gatsby, den anderen tragischen Self-Made-Man der Literaturgeschichte, erinnert, ist kein Zufall.
Niederland steht in einer Reihe mit Fitzgeralds Gesellschaftsroman. Es gehört in die gleiche Liga wie Richard Yates’ Zeiten des Aufruhrs, Rick Moodys Der Eissturm oder Jonathan Franzens Die Korrekturen. Es ist ein Buch, das lange über die Lektüre hinaus beschäftigt. Ein Roman, wie es ihn nur alle paar Jahre einmal gibt.
NiederlandJoseph ONeill, Roman, Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. 320 S., 19,90
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