Globalisierung des Zorns

Mumbai im Rückspiegel Mehr sein als feiner Sand im Getriebe

Vorerst sind all die Kämpfer für eine andere Welt in die, ach, immer noch selbe Welt zurückgekehrt. Die Straßenkinder der kleinen Theatertruppe, die mit ihrem unbefangenen, improvisierten Spiel uns Besucher bezaubert hat, werden wieder im Staub von Mumbai sitzen. Zurück in Bhopal ist der Dichter Ramprakash Tripathi, der Teile seines Gedächtnisses einbüßte, als vor nunmehr 20 Jahren mitten in dicht besiedeltem Gebiet wegen eingesparter Sicherheitsvorkehrungen die Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide in die Luft ging. Bis heute sind 30.000 Todesopfer zu beklagen, und immer noch gibt es spezielle Hospitäler für Gasopfer. Heimgekehrt ist die vietnamesische Jugendgruppe, die über die grauenvollen Spätfolgen des im Krieg versprühten Entlaubungsgifts Agent Orange aufgeklärt hat, dem größtem Chemiewaffeneinsatz, den es je gab. Noch heute ist der Dioxin-Gehalt im Blut von Menschen und Tieren der Region hundert mal höher als normal.

"Vergesst mich nicht", hatte beim Abschied Amauri Queiroz, Delegierter der Afrobrasilianer gebeten, der an das immer noch nicht überwundene strukturelle Erbe aus der Sklaverei erinnerte: Obwohl die Schwarzen in seinem Land fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, gehören die allermeisten von ihnen zu den Ärmsten der Gesellschaft, 97 Prozent der Studenten sind Weiße. Zurück in Kanada wird ein junger Mann seiner Umweltgruppe berichten, welches Staunen er unter von ihrem Land vertriebenen Dalits - Unberührbaren - auslöste, als er kritisierte, dass ein Nordamerikaner in drei Tagen soviel Wasser verbraucht, wie ein Inder im ganzen Jahr.

All diese Zustände kann ein akademisch geprägtes Forum wenn nicht ändern, so doch reflektieren. Und damit bei den Betroffenen, durch die erfahrene Kultur der Solidarität, durch eine fröhliche Art politischer Herzensbildung, Spuren hinterlassen. Nicht nur mit dem Gefühl gehört worden zu sein, sondern mit neuen Kontakten, verheißungsvollen E-Mail-Adressen und konkreten Verabredungen zu gemeinsamen Aktionen haben die Teilnehmer ihre Batterien aufgeladen, für demokratische Einmischung, gegen die Versuchung von Ohnmacht und Resignation. Schon deshalb war das Ganze viel mehr als ein gigantisches Festival.

Diese mentale Ermutigung schien nötig, nicht nur weil die Bühnen im gastgebenden Hungerland einen viel härteren Kontext boten. Indische Journalisten scheuten sich nicht, den von politischen Interessen geschürten Hindu-Extremismus neofaschistisch zu nennen. Verklungen waren die übermütigen Gesänge vom Vorjahr: Ole, Ole, Ola, Lula ... Laura Tavares, Professorin in Rio de Janeiro, brachte die Desillusion über die Mächtigen der Welt auf den Punkt: "Sie erlauben uns, jemanden wie Lula zu wählen. Aber sie erlauben nicht, die Wirtschaft zu verändern." Arundhati Roy gab sich alle Mühe zu erklären, weshalb charismatische Oppositionsführer und großartige Menschen wie Lula oder Mandela, sobald sie in der Regierung seien, vor dem Gott der Marktwirtschaft in die Knie gingen. Sie seien zu Geiseln eines ganzen Spektrums von Bedrohungen geworden, "die übelste davon die Drohung mit Kapitalflucht, die jede Regierung über Nacht zu Fall bringen kann". Und die Frage drängte sich auf: Sind nicht die großen Konzern- und Bankeigner die eigentlich "Unberührbaren" dieser Welt? Unangreifbar in ihrem selbstgeschaffenen Kordon aus Gesetzen, Polizei und Kapital?

Der gefeierte Überläufer Joseph Stiglitz, der einst als Vizechef der Weltbank das Desaster dieser Politik nicht nur zu begreifen, sondern auch zu artikulieren begann und folgerichtig gefeuert wurde, sprach den Globalisierungskritikern aus dem Herzen: Das Modell des liberalisierten Kapitalmarkts funktioniert nicht in den entwickelten Ländern und erst recht nicht in den unterentwickelten. Die Ökonomie gibt heute keine einzige Antwort auf die soziale Frage. Diese Botschaft schien beim Gegengipfel in Davos unvollständig angekommen. Bill Clinton, der sich von Stiglitz einst beraten ließ, billigte in seiner dortigen Eröffnungsrede den "many wonderful people" in Mumbai zu, die richtigen Fragen zu stellen. Aber die Antworten seien falsch, da sich die Globalisierung nicht zurücknehmen ließe. Er bot eine Arbeitsteilung an, nach dem Motto: Sie fragen, wir antworten.

In der von Inter Press Service herausgegebenen Zeitung des Weltsozialforums Terra Viva finde ich zu meiner Überraschung einen ganzseitigen Beitrag des derzeitigen Präsidenten der Weltbank, James D. Wolfensohn. Einsichtig räumt er ein, der Dialog in Mumbai könne den "world leaders" helfen, die Armut bis 2015 zu halbieren. (Bekanntlich hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich bisher nur vertieft - soll das Sozialforum durch Umarmung in die Verantwortung für das absehbare Verfehlen des erklärten Zieles einbezogen werden?) Angeblich hätten die "Führer neuen Typs" verstanden, dass ökonomischer und sozialer Fortschritt untrennbar seien. Zum Beweis wird Präsident Lula gelobt, weil er seine Gesundheits- und Bildungsreform durch fiskalische Disziplin (sprich Kürzungen) und die Öffnung des Marktes für ausländische Investitionen finanziert habe. Kein Wort darüber, dass die Erfolge in Asien dort erzielt wurden, wo die Märkte eben nicht bedingungslos geöffnet wurden. Wolfensohn, Chef einer der meistgehassten Institutionen auf dem Forum, streckt die Hand zum "gemeinsamen Engagement" aus - was tun?

Obwohl die Substanz an aufschlussreichen Analysen mir diesmal noch geballter als in Porto Alegre vorkam, scheint angesichts des Vakuums an gemeinsamen Handlungsmaximen die Gefahr, sich von der schmeichelnden Rhetorik der anderen Seite vereinnahmen zu lassen, nicht gebannt. Roberto Savio, Gründungsmitglied des Internationalen Komitees des WSF, fürchtet das Aufbrechen eines untergründigen Generationenkonflikts in der Bewegung: zwischen der ersten, die aus der Friedens-, Frauen-, und Umweltbewegung kommt und der zweiten, aufgewachsen im Kampf gegen die Globalisierung und somit radikaler. Radikaldemokratischer, würde ich präzisieren. Stärker als zuvor fiel mir in Mumbai die Verurteilung der Kluft zwischen Recht und Realität auf.

Zur Globalisierung des Zorns trug im vergangenen Jahr die ernüchternde Erfahrung bei, dass Hundert Millionen Antikriegs-Demonstranten aus aller Welt eine zu vernachlässigende Größe sind. Selbst wenn die Kriegsvorwände als Lügen leicht zu durchschauen waren und die Warner Recht behalten sollten: Demokratie lässt sich nicht herbeibomben. Und während die iranische Richterin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi auf einem Podium für ein neues Modell eines internationalen Strafgerichtshofes warb, diskutierten versprengte Kriegsgegner in kleiner Runde, ob das in der UN-Charta garantierte Verteidigungsrecht gegen eine Aggression, für den Fall, dass weder der angegriffene und okkupierte Staat, noch die UNO zur Verteidigung fähig oder willens seien, dieses Recht auch von Partisanen oder Guerillas wahrgenommen werden könne. Warum sonst gehört Che Guevara zu den Idolen der Bewegung?

Doch solche Planspiele am Rande bestimmten entgegen dem von Medien erweckten Eindruck nicht den Diskurs. Gerade Arundhati Roy gehörte zu den wenigen, die Vorschläge für zivilen Widerstand formulierten. Die letzte Macht, die dem Bürgern geblieben ist, ist sein Verhalten als Konsument. Er wählt zwischen Marken, seien es Fernsehkanäle, Turnschuhe oder Politiker. Ein früherer Boykottaufruf im südindischen Kerala gegen den Coca Cola Konzern, der dort täglich 600.000 Liter Grundwasser abpumpt, hatte bereits Erfolg. Der Umsatz soll um 50 Prozent zurückgegangen sein. Skeptiker verwiesen prompt auf den Verlust von Arbeitsplätzen, dabei war die Nachfrage nach einheimischen Getränken gestiegen.

Wenn derart harmlose Gegenwehr schon so umstritten ist - wann wird es dann zu Aktionen kommen, die mehr sind, als Sand im Getriebe? Die wirklich stören? Und verändern? Wann werden sich die Attacies auf Attacken einigen können? Auch wenn die Ästhetik des Widerstandes noch zu bestimmen ist: Es kann die Spur unserer Forumstage nicht in Äonen untergehn.

Auf dem Rückflug bot die nationale Fluggesellschaft Air India Cola und Hollywood. Über den Wolken wippte die Mondsichel auf ihrem Rücken, wie von Kichern geschüttelt.


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