Sich selbst retten

1.700 eigene Schulen Die Bewegung der Landlosen in Porto Alegre

Brasiliens Presse wird von neun Familien beherrscht, die zumeist selbst Latifundien besitzen. Entsprechend feindselig wird die Bewegung der Landlosen (MST) in der Öffentlichkeit präsentiert. Man versucht zu unterstellen, in ihren Camps würden Guerilleros ausgebildet, man würde sich bewaffnen. »Wie soll man allen verständlich machen, dass wir friedlich sind und in den Camps unsere Leute alphabetisieren und mit agrarwirtschaftlichen und rechtlichen Grundkenntnissen ausstatten?« fragt der für internationale Beziehungen der MST zuständige Egidio Brunetto auf einem Podium des Weltsozialforums. »Indem wir unsere eigene Zeitung herausgeben.«

An diesem Abend wird Brasil de Fato (»Brasilien in Fakten«) vorgestellt. Ein unabhängiges linkes Wochenblatt, unterstützt von Gewerkschaften, Linksparteien, NGO und Intellektuellen wie Leonardo Boff (Senior der Befreiungstheologen), Noam Chomsky oder José Saramago.

Glimar Mauro von der Nationalleitung der MST erzählt: Brasilien gehört zu den starken Industriestaaten, aber 40 Millionen Brasilianer leiden täglich an Hunger, Ungezählte sterben an Unterernährung. In keinem anderen Staat Lateinamerikas ist das Land so ungleich verteilt wie in Brasilien. Etwa ein Prozent der Latifúndio - der Großgrundbesitzer - besitzt fast die Hälfte der kultivierbaren Fläche des Landes. Kein Wunder, dass sie es nicht nötig haben, ihre teils durch gefälschte Eigentumsurkunden erworbenen, unermesslichen Flächen auch nur annähernd produktiv zu nutzen. Etwa 100 Millionen Hektar fruchtbares Land liegen brach. Zugleich gibt es schätzungsweise fünf Millionen Landlose. 1981 begannen einige wenige von ihnen, sich zu organisieren und ungenutztes Land zu besetzen. Die Bewegung fand trotz aller Repressionen schnell Zulauf. Nur durch diese Massenbeteiligung konnte durchgesetzt werden, dass die fortschrittliche Verfassung von 1988 die Enteignung von Ländereien verfügte, die keine soziale Funktion erfüllen. Doch die damalige Regierung unter Präsident Cardoso nahm ihre eigene Verfassung nicht ernst. Immer wieder kamen durch den Filz von Großgrundbesitzern und Regierung Ausnahmedekrete zustande, die festlegten, welche ungenutzten Ländereien unter Umgehung des Gesetzes nicht besetzt werden durften.

Versuchten es die Landlosen dennoch, wurde sie oft mit Prozessen überschüttet, inhaftiert oder zu Geldstrafen verurteilt. Welches Risiko die theoretisch im Recht befindlichen eingingen zeigt die Tatsache, dass zwischen 1988 und 2000 mehr als 1.500 MST-Aktivisten ermordet wurden. Die Mörder konnten von Straffreiheit ausgehen, höchstens drei sitzen im Gefängnis, sagt mir Johan Paula vom MST-Büro in Brasilia: »Die Oligarchien sind stark, Boden bedeutet politische Macht. Eine isolierte Agrarreform wird nicht gelingen, die Machtstrukturen im Land müssen verändert werden. Wir wollen mit Herz und Leidenschaft eine solidarische Gesellschaft aufbauen. Wir haben Lula aktiv unterstützt, haben seinen Sieg als unseren angesehen. Jetzt sind nicht mehr die Regierenden unser Feind, sondern die Großgrundbesitzer, die allerdings auch im Parlament stark sind. Die brasilianische Elite will nicht, dass Arme eine eigene Stimme entwickeln, sie verabscheut organisiertes Volk. Unsere Autonomie werden wir jedenfalls behalten - sollte es Rückschritte geben, werden wir auch Lula kritisieren.«

Und die Bewegung der Landlosen hat inzwischen mehr zu verlieren als ihre Ketten. 150.000 Familien haben besetztes Land endgültig zugesprochen bekommen, 70.000 Besetzer warten noch darauf. Die Bewegung richtete landesweit 1.700 Schulen ein, dazu sechs Laboratorien, in denen geforscht und produziert wird - unter anderem ökologisches Saatgut oder Heilkräuter für ein alternatives Gesundheitswesen. Fachleute helfen, mit natürlichen Materialien wie Lehmziegeln alte indianische Bautraditionen zu beleben, damit das Volk auch eine architektonische Sprache bekommt und die Bewegung nach außen kenntlich wird. Die Landlosenbewegung ist durch Spenden und die Erlöse ihrer 80 Kooperativen in der Lage, kleine Kredite für Ausbildung oder Produktionsgründungen zu geben.

Zum Abschied betont ein derart erfolgreicher Gastgeber bescheiden, dass all dies nur durch nationale und internationale Solidarität zu erreichen war. Und ich erinnere mich an den Grundsatz der Befreiungstheologie, den Leonardo Boff am Tag zuvor unter dem Beifall Hunderter Forumsteilnehmer zitiert hat: »Wenn wir alle retten, retten wir auch uns selbst. Wenn wir nur einige retten, verlieren wir alle.«

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