Ahnen wir auch nur, dass sich die auf Amerika konzentrierenden Vorwürfe der Globalisierungsgegner natürlich auch uns Westeuropäer belasten? Weil auch wir das Leben des wirtschaftlich Schwächeren wie ein schwächer zu schützendes Leben behandeln?
All das ist nicht nur wegen des Kanzlerwortes von der uneingeschränkten Solidarität auch eine Deutschland angehende Sache, sondern aus zwei wesentlicheren Gründen: Da wäre die Frage nach der deutschen Mitschuld am Zustand der Welt. Und die Frage nach der deutschen Souveränität angesichts nötiger Veränderungen des Zustandes der Welt.
Während wir im eigenen Land höchste Sicherheit zur Norm machen, verseuchen wir durch Missachtung einfachster Umweltstandards die Lebensgrundlagen ärmerer Nachbarn. Nur ein Beispiel: Der auch mit deutscher Beteiligung operierende Konzern Euro-Gold hat in über 500 Orten der Türkei Abbaulizenzen. Dabei wird zum Zwecke der Profitmaximierung mit Zyanid, diesem hochgiftigen Salz der Blausäure, das Gestein ausgelaugt. Unser Konzern hat dort verseuchtes Grundwasser, abgestorbene Bäume, kranke Haustiere und - insbesondere bei Kindern - signifikant gestiegene Krebsraten hinterlassen.
Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre wurde soeben gegen den in Brasilien geplanten Bau des Siemens-Atomkraftwerkes Angra 3 demonstriert. Französische Chemikalien haben in jüngster Zeit im Kongo ebenso eine tödliche Giftspur hinterlassen wie schwedische in Brasilien oder der Shell-Konzern in Nigeria. Und Union Carbide im indischen Bhopal.
Der fundamentalistische Terrorismus ist ein Krebsgeschwür - aber nicht das einzige. Die Privatisierung von Gewalt hat lange vor ihm der Terror der Ökonomie praktiziert. Mitangesehen zu haben, wie ausgerechnet diese ebenfalls todbringenden Terroristen sich zu Verteidigern westlicher Grundwerte ernannt haben - darin liegt unsere verdrängte Mitverantwortung. Was wir nicht begreifen wollen: Der Terrorismus ist kein Angriff auf westliche Grundwerte, sondern auf deren Nichteinhaltung. Er ist kein Angriff auf die Zivilisation, sondern auf deren unzivilisierte Kehrseite.
Wir haben nicht länger das Recht, für unseren Wohlstand die Verletzung des Menschenrechts auf Leben in ärmeren Ländern billigend in Kauf zu nehmen. Genau diese gottlose Demütigung ist eine Ursache für fundamentalistische Wut. Wir müssen für eine Welt sorgen, in der kein Terrorist Anlass hat zu behaupten, er nähme nur das "Recht auf Selbstverteidigung" in Anspruch.
Terrorismus ist ein Schrei, der gehört werden will. Aus den merkwürdigen Interviews von Osama Bin Laden, dieser verstoßenen Kreation des CIA, wird gern herausgehört, er wolle die Muslime gegen die Ungläubigen verteidigen. Noch lieber wird sein Vorwurf überhört, die Amerikaner würden den Muslimen das Erdöl stehlen und gegen diesen größten Terrorismus der Welt helfe nur, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Auf diese Gewalt-Anmaßung muss selbstverständlich reagiert werden, sonst ist die Zivilisation gefährdet. Eine falsche Reaktion gefährdet die Zivilisation allerdings mehr als keine.
Wo also wären die Alternativen? Eigentlich liegen sie doch auf der Hand: Westliche Grundwerte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Ich will gar nicht zur Besinnung auf die uns angeblich moralisch überlegen machenden christlichen Werte mahnen. Wissen unsere militäreinsatzfreudigen Parlamentarier eigentlich, welcher Text sie beim obligatorischen Abhören der 9. Sinfonie da stets begeistert?
Groll und Rache sei vergessen,
Unserm Todfeind sei verziehn,
Keine Träne soll ihn pressen,
Keine Reue nage ihn.
Unser Schuldbuch sei vernichtet!
Ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder - überm Sternenzelt
Richtet Gott, wie wir gerichtet.
"Wie wir gerichtet" - was hieße das anderes als: Handle so, dass die Maxime deines Richtens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Die herausgeforderte demokratische Welt kann keine undemokratische Antwort geben, ohne ihr Gütesiegel zu verlieren.
Die Schuldbücher der Terroristen zu vernichten, wäre der christlichen Nächstenliebe sicher zuviel verlangt. Im Gegenteil, sie sollten, so man denn welche hat, vor der Weltöffentlichkeit ausgebreitet werden und zu einem rechtsstaatlichen Tribunal führen. Das hat auch der Papst als angemessene Reaktion angesehen. Ob die Taleban ihre vor Kriegsbeginn gegebene Zusage, Osama bin Laden bei Vorliegen von Beweisen auszuliefern, eingehalten hätten, mag fraglich sein. Wenn die USA und ihre Verbündeten aber ihre Vergeltung mit verdachtbegründenden, internationalen Haftbefehlen eingeleitet hätten, könnte ihnen niemand vorwerfen, die zivilen Mittel der Terrorbekämpfung nicht ausgeschöpft zu haben. Ja, die weltweiten Gegner von Gewalt (wie ich) hätten dann gegen gezielte, militärpolizeiliche Verhaftungsaktionen kein Argument mehr gehabt.
Aber das sind Erwägungen bloßer Ohnmacht. Wer die alleinige Macht hat, pfeift auf Argumente. Der demonstriert, dass er machen kann, was er will. Der erfindet für sich das Recht auf Rache an Unschuldigen. Man musste nicht Pazifist sein, um zu sehen: Ein Luftkrieg mit Streuminen und Benzinbomben, die bei ihrer Explosion im Umkreis von Kilometern den Sauerstoff zum Atmen verbrennen, ist zum Ergreifen von Terroristen ungeeignet. Krieg ist kein Mittel der Strafverfolgung. Die Anzahl der vorverurteilten, getöteten Taleban- oder al-Qaida-Kämpfer soll im Verhältnis zu den zivilen Todesopfern bei unter einem Prozent liegen. Ein zynischer Beleg für die angemaßte Kompetenz zum Rechtsbruch. Und während Bin Laden über alle Berge ist, darf man gespannt sein, zu welchen Konditionen der einstige Berater des US-Ölkonzerns UNOCAL und jetzige Stadthalter in Kabul, Hamid Karzai, den Bau der vom Konzern lange erstrebten Pipeline von den Ölfeldern des Kaspischen Meers durch Afghanistan zum Arabischen Meer genehmigt.
Ich weiß, so manche regierenden Politiker in Deutschland, sehen das gar nicht sehr anders. Dennoch halten sie die Auffassung vieler meiner Schriftstellerkollegen, man hätte nur bedingte Solidarität anbieten dürfen, für naiv. Allein inmitten der weltweiten Koalition gegen den Terrorismus hätte man sich hoffnungslos isoliert, von allem künftigen Einfluss selbst ausgegrenzt. Die Ironie ist nur: ausgegrenzt sind wir sowieso. Und wenn schon ausgegrenzt, dann doch lieber mit seinen Überzeugungen als ohne sie.
Die evangelische und katholische Kirche sind ja auch nicht isoliert, nur weil sie diesen Krieg als Versagen von Politik verurteilen. Um die aufschlussreiche Erfahrung, welche Wirkung ein Nein zum Luftkrieg sagendes Deutschland auf das übrige Europa gehabt hätte, hat man uns gebracht. Männerstolz vor Königsthronen? Politik ist angeblich ein Ergebnis des Kalküls zwischen Interessen und Macht. Nach der Einheit wurde Deutschlands wiedergewonnene Souveränität bejubelt. Heute gilt schon wieder nur als Realist, wer die Nichtsouveränität Deutschlands anerkennt. Für mich eher ein Kneifen vor Verantwortung.
Ich und Du, Müllers Kuh... raus ist Deutschland, raus ist Europa, ja selbst die NATO wird von den USA vorgeführt. Dabei haben sie alle ihre Entmachtung durch bedingungslose Devotheit selbst exekutiert. Und nun fehlt es uns an Kraft, die Zeit wieder einzurücken...
Der Friede als Ernstfall - so hat Gustav Heinemann 1964 die eigentliche Herausforderung benannt. Deutschland, von dessen Boden zwei Weltkriege ausgingen, sollte sich mehr als alle anderen Nationen darauf besinnen: Es gibt auch eine Mitverantwortung für Kriege, die nicht von eigenem Boden ausgehen. Die Vernachlässigung der Nation durch die Linke mag ein gefährliches Versäumnis sein. Aber die Vernachlässigung der Internationale durch die Linke ist noch gefährlicher. Heute scheinen es vor allem wieder die französischen Sozialisten zu sein, die Europa als politisches und ökonomisches Zentrum einer Gegenmacht zum Unilateralismus vorantreiben wollen. Weil die Welt im Gleichgewicht der Kräfte erwiesenermaßen besser im Lot ist. Bei diesem Vorhaben könnte ich mir beherzte deutsche Solidarität gut vorstellen.
Verkommt die Globalisierung immer mehr zur Colarisierung? Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in New York waren soeben neue Töne zu hören, die erkennen ließen, was nicht überrascht: Viele Politiker wissen, wo der Hase im Pfeffer liegt. "Terrorismus und Armut sind Zwillinge", warnte die philippinische Präsidentin Gloria Arroyo. Und selbst US-Außenminister Powell gestand ein, der Terrorismus blühe "in Regionen der Verzweiflung, in denen Menschen keine Hoffnung haben". Doch inzwischen ist auch er auf Linie gebracht und macht sich angesichts der europäischen Angst vor einem permanenten, globalen Krieg lustig über das "Gewinsel der Gerechten".
Die Crux ist doch: solange der Kampf um Naturschätze mit Waffen ausgetragen wird, solange sich mit Bombern, Minen und Panzern und der langwierigen Beseitigung ihrer Zerstörungen mehr verdienen lässt, als mit Bewässerungstechnik, Mähdreschern, Schulen und Krankenhäusern, scheint mir jeder moralische Appell für die Katz. Solange wir uns in der Logik des Kapitals, also des Maximalprofits bewegen, und ich sehe keine andere Logik, dürfen die Lösungsvorschläge nicht unlogisch sein. Daraus folgt, dass wir aufgerufen sind, Bedingungen zu schaffen, unter denen Frieden ein besseres Geschäft ist als Krieg. Uns zwingt doch niemand Regierungen zu wählen, die mit unsern Steuergeldern Schwerter sponsern, statt Pflugscharen.
Oder doch? Wer von uns hat ein persönliches materielles Interesse am Agieren der deutschen Firmen, die sich jetzt in Afghanistan die Klinke in die Hand geben sollen? Wer an den gestiegenen Rüstungsaktien? Warum schweigt die Deutsche Bank über Insidergeschäfte, die in großem Umfang unmittelbar vor dem 11. September über ihre US-Tochter Banker´s Trust abgewickelt wurden? Warum ist unter den deutschen Aufbauhelfern kein einziger Kameramann der ARD, der uns spendenwirksam Anteil nehmen lässt an den Folgen der Bombardements? Zeugt die deutsche Präsenz von Flottenverband und Spürpanzern im arabischen Raum von der Bereitschaft, sich in einen verbrecherischen Krieg um Ressourcen hineinziehen zu lassen?
Eine exakte Analyse über die ökonomischen Gewinner und Verlierer von Terror und Krieg ist Voraussetzung einer nachhaltigen Friedensordnung. Der US-Analytiker Ethan B. Kappstein hat vor fünf Jahren in der Zeitschrift Foreign Affairs verzweifelt vorausgesagt: "Die Welt treibt auf einen dieser tragischen Momente zu, die später Historiker zu der Frage veranlassen werden: was hielt die Eliten davon ab, eine globale soziale Krise zu verhindern?" Die eigentliche Tragik liegt wohl darin, dass diese Frage spätestens von den Historikern und Philosophen des 19. Jahrhunderts abschließend geklärt wurde. Von Karl Marx erwartet man nichts anderes als die Erkenntnis vom "allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Produktion", wonach Bedingung für die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol zugleich die "Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Hunger, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol" ist.
Aber selbst Friedrich Nietzsche, offenbar unter dem bedrohlichen Eindruck der Pariser Kommune, fand seine Überlegungen menschlich, allzumenschlich: "Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe ... namentlich den Geldhandel aus den Händen der Privaten - und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen."
Nie gab es soviel gemeingefährliche Wesen, nämlich extrem Reiche und Arme, wie heute. Statt ihre Geld- und Kornspeicher für die Bedürftigen zu öffnen, geben die USA nach Angaben von Ex-Präsident Clinton täglich über eine Milliarde Dollar für die Kriegführung aus. Auch der deutsche Verteidigungsetat ist drastisch erhöht worden. Steuern zu Pflugscharen?
Wo das Erbauliche bleibe? Ob denn da nicht Hoffnung sei, auf eine soziale Bewegung der Gewaltlosen am Horizont von Seattle, Prag, Genua und Porto Alegre? Steckt etwa keine Emanzipation hinter dem Wandel des Slogans von Wir sind das Volk zu Wir sind die Demokratie? We´re democracy? Habenichtse aller Länder, vereinigt euch? Alle Menschen werden Brüder? Da fühle ich mich aufgehoben in einer Stimmung, die Gramsci für sich beschrieb: Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens.
Der Text ist der am 17. Februar gehaltenen Dresdner Rede von Daniela Dahn entnommen.
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