Ihre Punkte bitte!

Eurovision Song Contest Fans geben auch dieses Jahr wieder ihre Prognosen zum europäischen Musikwettstreit ab. Doch wie zuverlässig diese sind, ist umstritten.

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Jeder Freund des Eurovision Song Contest kann ein Liedchen davon singen. Auf Facebook wird man überall aufgefordert an kleinen Umfragen teilzunehmen: Wer schafft es ins Finale? Wer hat das bessere Kostüm? Wer singt das bessere Lied? Wer sieht am schönsten aus? Das mag bis zu einem bestimmten Grad lustig sein. Ständig mit dem Richterhammer zu schlagen, kann dauerhaft ziemlich erschöpfend sein.

Gefühlt scheinen diese Polls im Zeitalter sozialer Medien exponentiell zugenommen zu haben. Es geht heut nicht nur schneller, sondern lässt sich mit Emojis noch einfacher ausdrücken. Ein Klick auf ein trauriges oder wütbürgerisches Gesicht genügt und schon ist die Meinung in die Welt gesetzt.

Unbeirrt von neuen Trends geht die OGAE-Poll ihren eigenen Weg. OGAE steht für „Organisation Générale des Amateurs de l'Eurovision“ und ist ein Bündnis aus Fanclubs, die ihre ESC-Leidenschaft zum Vereinsziel erhoben haben. Bevor der ESC stattfindet, bewerten die Fanclubs alle Beiträge des aktuellen Jahrgangs. Dabei nutzen sie das bekannte Punkteschema: zwölf Punkte gibt es für den besten Beitrag, zehn Punkte für den zweitbesten Beitrage und so weiter. Die Punkte werden dann ESC-mäßig zusammengetragen und scheibchenweise herausgegeben.

Die deutsche Wertung steuert die Umfrage auf der Vereinswebsite des OGAE Germany bei. Für Frank Albers, Präsidiumsmitglied des OGAE Germany, ist das Besondere an der OGAE-Poll die lange Tradition: „Sie ist die Mutter aller ESC-Prognosen, das Original eben. Der TED, wie wir ihn nennen, hat über die vielen Jahre seine Schlichtheit bewahrt, was ihn bei den Mitgliedern so populär macht.“ Tatsächlich gibt es die OGAE Poll schon seit 2007 und hat sich nicht verändert, weswegen das Format heute etwas altbacken anmutet.

Der Fan weiß es besser?

Ein tiefer Drang für die Fans ist es, den Gewinner vorhersagen zu können. Das lässt sich auch in Beiträgen herauslesen, die sich mit der OGAE Poll beschäftigen. Oğulcan Aydokan vom englischsprachigen ESC-Blog Musiable hat sich die Ergebnisse seit 2015 angeschaut und fällt eher ein ernüchterndes Urteil: Nur einmal haben die Fanclubs den Gewinner richtig getippt - und zwar Israel mit der Sängerin Netta und ihrer Winkekatzen-Nummer Toy. Kein Wunder, denn Netta hat auch mit ihren schrillen Outfits und ihrer Extrovertiertheit den Geschmack des Fan-Publikums getroffen. Ansonsten lagen meist Länder in der OGAE-Wertung vorne, die es letztlich nicht auf die Spitzenplätze geschafft haben. Auf dem Fanportal ESCXtra hat Ryan Cobb noch etwas tiefer in die Daten-Schatztruhe gegriffen und alle Ergebnisse seit 2007 ausgewertet. Ryan kommt zu einem anderen Schluss: Mit jedem Jahr hat sich die Treffgenauigkeit der OGAE-Poll bezogen auf das tatsächliche Endergebnis erhöht. In den Top 5 finden sich häufig zwei oder drei Beiträge, die es dann auch schließlich beim ESC unter die besten fünf schaffen. Kein schlechter Wert, wenn man bedenkt, dass mittlerweile bis zu 43 Beiträge am Wettbewerb teilnehmen.

Ryan sieht auch eine enge Beziehung zwischen den OGAE Polls und den Wettquoten. Zurecht stellt er sich hier die Frage, wie sich die Wettquoten und das Fan-Voting beeinflussen. Dass Fans auch gleichzeitig Geld in die Hand nehmen und für ihre Favoriten abstimmen, wäre wenig überraschend. Möglicherweise ist aber auch vielen klar, dass das Voting eine Orientierungshilfe ist. Auch er muss aber gestehen, dass die Fans mitunter einige Acts viel zu hoch bewerten.

Es muss gleich am Anfang funken

Fans haben einen eigenen Musikgeschmack, der sich nicht oft mit denen der TV-Zuschauer deckt. Pluspunkte gewinnt man bei den Fans sehr leicht, wenn man einen Beitrag schickt, der entweder bunt, schrill und laut ist oder auf auf große tiefe Emotionen setzt.

Zudem hören sich Fans und TV-Zuschauer die Songs in einem ganz anderen Zusammenhang an: Fans haben die Songs schon mehrmals gehört und kennen die Musikvideos oder Auftritte aus nationalen Vorentscheidungen. TV-Zuschauer sehen die Beiträge erstmals bei den Live-Shows. Abstimmungsberechtigte TV-Zuschauer entscheiden aus dem Bauch heraus, ob ihnen ein Song gefällt oder nicht. Springt der Funken nicht über, dann wird lieber mit Freunden oder Familienangehörigen geredet und der Song gerät in Vergessenheit oder gleich aufs Smartphone geschaut. Oftmals scheitert der deutsche Beitrag in den letzten Jahren daran, dass er mitunter zu grau, zu künstlich, zwanghaft und bewegungslos am Bildschirm daherkommt. Ein ESC-Beitrag ist nun mal keine Maschine, sondern ein popkulturelles Kunstwerk.

So schaut es für Jendrik aus

Der Norddeutsche Rundfunk, seit 1997 für den deutschen Beitrag zuständig, hat deswegen eine 100-köpfige Eurovision-Jury geschaffen, die eben ganz bewusst aus Fernsehzuschauern und nicht aus eingefleischten Fans besteht. Diese Jury hat in einer internen Auswahl den 26-jährige Jendrik und seinem selbstkomponierten Song I don't feel hate zu Deutschlands Vertreter in Rotterdam erhoben. Ironischerweise ist Jendrik selbst ein Fan, der schon immer zum ESC wollte. Ob das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, das wird sich spätestens am Finalabend am 22. Mai zeigen. Der ESC 2021 findet unter strikten Hygieneauflagen diesmal statt, nachdem er letztes Jahr abgesagt wurde.

Ein Blick auf den Zwischenstand bei der OGAE nach den ersten zehn Punktevergaben lässt Schlimmes befürchten. Deutschland hat noch keinen einzigen Punkt erhalten. Für Jendrik drücke ich trotzdem die Daumen und hoffe, dass schließlich alles gut wird beim ESC in Rotterdam. Die Anti-Hass-Botschaft seines Songs ist wichtig und bringt auch das Problem des ständigen gedankenlosen Urteilens humorvoll zur Sprache.

Transparenzhinweis: Der Autor ist Mitglied im OGAE Germany.

Tipp des Autors: Wer lieber in einer offenen Community abstimmen möchte, kann dies mit der App my Eurovision Scoreboard machen. Hier kann jeder seine eigene Rangliste erstellen und Songschnipsel aller Beiträge anhören.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Koch

Schreibt über den Eurovision Song Contest, die Teilnehmer, die Länder und die TV-Shows

Daniel Koch

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