Das Karlsruher Korrektiv

Andreas Voßkuhle Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts mischt seit geraumer Zeit den Politikbetrieb auf. In Zeiten Merkelscher Marginalisierung von Politik ein notwendiges Korrektiv

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"Ernüchternd", so offen kommentierte Andreas Voßkuhle in seiner Urteilsbegründung das schwarz-gelbe Wahlgesetz im Jahr 2012, das wesentliche Vorgaben des Gerichts im wiederholten Falle nicht berücksichtigt hat.

Nachhilfestunden aus Karlsruhe sind seit der Großen Koalition 2005 häufiger geworden. Ob beim Luftfahrtsicherheitsgesetz, beim Wahlgesetz, bei den Bedarfsregeln zu Arbeitslosengeld II, die Regelungen zum Lebenspartnerschaftsgesetz oder jüngst neue Vorgaben für die Antiterror-Datei von Bund und Ländern.

Ohne ein letztes Wort aus Karlsruhe geht kaum mehr etwas in dieser Republik. Schwarz-Gelb hat sich teilweise nun darauf eingestellt. Bei der Debatte um gleiche Rechte für homosexuelle Partnerschaften lässt sich Merkel in letzter Konsequenz von den Karlsruher Richtern treiben. Ein eigener politischer Ansatz ist nicht erkennbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Art der Arbeitsteilung längst durchschaut. Vor allem an der Spitze des Gerichts steht ein Mann, der nicht länger nur der Ausputzer einer Merkelschen Nichtpolitik sein will: Andreas Voßkuhle.

Einst lediglich zweite Wahl wurde er am 25. April 2008 zum Richter ans Bundesverfassungsgericht gewählt und stieg 2010 zum Präsidenten des mächtigen Karlsruher Verfassungsorgans auf. Anfangs seine Rolle noch suchend gestaltet er seit einiger Zeit aktiv die Berliner Politik mit.

Die Eurokrise machte aus Karlsruhe einen politischen Akteur

Wie lässt sich Voßkuhles zunehmender Einfluss erklären? Man kann in der Merkelschen Marginalisierung von Politik einen Erklärungsansatz finden. Angela Merkel hat es inzwischen zur Staatskunst gemacht, jeden politischen Diskurs, jede Reibungsfläche zu vermeiden.

Politik und vor allem die Gesetzgebung im Bundestag ist ohne eine zuvor ausgetragene Debatte immer mehr die Politik aus einem Guss geworden. Die Schmiede sitzen in der Exekutive, im Kanzleramt und den Bundesministerien. Verschiedene Interessen werden nicht mehr ausgeglichen. Es herrscht nur noch das administrative Interesse vor.

In der Eurokrise kam es im letzten Jahr zum Clash zwischen Berlin und Karlsruhe. Das Wort "Verfassungskrise" waberte durch die politische Elite, als ESM und Fiskalpakt vor rechtlicher Überprüfung in Karlsruhe bereits in Bellevue von Joachim Gauck unterzeichnet werden sollten.

Seither gilt das Verhältnis zwischen Berlin und Karlsruhe mindestens als angespannt. Entspannung ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Inzwischen beschränkt sich Andreas Voßkuhle nicht mehr nur darauf, in roter Robe im provisorischen Sitzungssaal die Bundesregierung auf Diskrepanzen ihrer Politik zum Grundgesetz aufmerksam zu machen, sondern wird bereits präventiv tätig.

Im Februar 2013 kam er als erster Verfassungsgerichtspräsident überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik einer Einladung der Bundespressekonferenz zu einem Hintergrundgespräch in Berlin nach. In diesem Gespräch vor ausgewählten Journalisten kündigte er an, dass eine anhängige Verfassungsbeschwerde zum Ehegattensplitting für homosexuelle Paare noch im ersten Halbjahr 2013 entschieden werden könne.

Zur selben Zeit tobte in der Union eine Debatte um dieses Thema. Horst Seehofer (CSU) sagte damals, durch Ankündigung und Kommentierung von Entscheidungen überschreite das Gericht seine Rolle. "Mir erfolgt da eine zu starke Pressearbeit des Bundesverfassungsgerichts. Es ist nicht die Aufgabe des Verfassungsgerichts, durch Öffentlichkeitsarbeit den politischen Prozess zu begleiten."

Merkel wollte Voßkuhle nach Bellevue entsorgen

Nach dem Attentat auf dem Boston-Marathon hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) angekündigt, verstärkt auf Videoüberwachung zu setzen. Prompt hat sich Andreas Voßkuhle eingeschaltet: "Dass nach einem Ereignis wie in Boston sofort Forderungen formuliert werden, ist Teil des politischen Geschehens“, sagte er der "Welt am Sonntag". "Bei der konkreten Umsetzung sollte dann aber wieder Besonnenheit einkehren."

Es ist nicht mehr zu übersehen, Andreas Voßkuhle ist zu einem politischen Akteur geworden. Er belebt die Debatte und erweitert so den Auftrag, die Verfassung vor Gefahren zu hüten. Im politischen Berlin ist diese Kompetenzerweiterung registriert und hat nun zu einer scharfen Reaktion durch Innenminister Friedrich geführt: "Wenn Verfassungsrichter Politik machen wollen, mögen sie bitte für den Deutschen Bundestag kandidieren."

Eine solche Aussage eines Bundesministers in Richtung Karlsruhe wäre in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten kaum denkbar gewesen. Nun geht sie im allgemeinen politischen Diskurs fast als Randnotiz unter.

Im Kanzleramt war man sich schon länger um die Gefahr "Andreas Voßkuhle" für den Merkelschen Kurs von scheinbarer Ruhe und Normalität bewusst. Nicht von ungefähr trug ihm die Kanzlerin im Februar 2012 die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten an. Im Schloss Bellevue wäre Voßkuhle praktisch kaltgestellt gewesen, weil er zwar in ähnlicher Weise mahnend den Diskurs hätte anregen aber nicht mehr in gleicher Weise die Politik hätte mitgestalten können.

Wenn Friedrich davon spricht, Voßkuhle möge sich doch für den Bundestag aufstellen, wenn er Politik machen wolle, hat er nicht erkannt, dass gerade in der Eurokrise der Bundestag wesentlich an Bedeutung verloren hat. Die Politik wird in Berlin im Kanzleramt und den Bundesministerien gestaltet. Und neuerdings verstärkt auch aus Karlsruhe.

Dass es nun auch eines Karslruher Korrektivs im politischen Diskurs bedarf, liegt vor allem auch an Angela Merkel, die ihre Politik nur so viel wie irgendwie nötig mit parlamentarischer Beteiligung betreibt.

Wenn das wichtigste Verfassungsorgan, der Deutsche Bundestag, nicht mehr effektiv Politik und Diskurs gestalten kann und von Interessen der Exekutive überfahren wird, ist das verstärkte Bemühen von Andreas Voßkuhle als Gegenpol zu wirken, gar nicht hoch genug zu würdigen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen

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