Der Ersatzgesetzgeber

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Die Bundesrepublik steuert geradewegs auf einen staatspolitischen Flurschaden zu. Das Bundesverfassungsgericht wird von den Parteien im Bundestag genötigt, an die Stelle des Gesetzgebers zu treten und ein Wahlgesetz zu erlassen. Die Parteien haben sich gründlich verkalkuliert – Ein Kommentar

Generationen von angehenden Juristen lernen für verfassungsrechtliche Klausuren eine Standardfloskel: „Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz, sondern prüft nur spezifisches Verfassungsrecht.“ Die Verfassungspraxis sieht indes anders aus. Allenthalben kommen aus Karlsruhe generelle Zielvorgaben für Gesetze, die mit dem Grundgesetz nicht in Einklang stehen. Prominentes jüngeres Beispiel ist die verfassungswidrige Pauschalberechnung von ALG II-Sätzen bei Kindern. Dass sich das Gericht über Jahrzehnte de facto zu einer Art abstrakten Supergesetzgeber etabliert hat, wird vom politischen Verfassungsgefüge mittlerweile akzeptiert.

Das laufende Verfahren um das Bundeswahlgesetz erreicht jedoch eine neue Dimension. Mitte 2008 haben die Karlsruher Richter das Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt und dem Bundestag eine üppig bemessene Frist bis Mitte 2011 gesetzt, das so genannte negative Stimmgewicht aus dem Gesetz zu beseitigen. Dies kommt dann zum Tragen, wenn in bestimmten Konstellationen mehr Wählerstimmen für eine Partei zur Kuriosität führen, dass sie im Parlament mit weniger Mandaten vertreten ist und umgekehrt.

Änderungen des Wahlgesetzes wurden im Bundestag von Anbeginn immer in einem Konsensverfahren über alle Fraktionsgrenzen hinweg verabschiedet. Einmal ungeachtet des Umstands, dass diese Gesetzesänderung mehr als zwei Jahre unbearbeitet in den Fraktionen gelegen hat, liegt der erste Affront des Bundestags gegenüber den Richtern in Karlsruhe in einer bisher ungekannten Chuzpe die gesetzte Frist für die Änderung mal eben um mehrere Monate überzogen zu haben. In dieser Zeit fehlte es schlicht an einem gültigen Wahlgesetz.

Der sich anschließende Vorgang um die Verabschiedung des neuen Wahlgesetzes wird aller Voraussicht nach einen staatspolitischen Flurschaden mit sich bringen, der noch über Jahrzehnte Narben im Verfassungsgefüge hinterlassen kann.

Im Dezember 2011, fünf Monate nach Ablauf der Frist, hat der Bundestag lediglich mit der Regierungsmehrheit die Reform des Wahlgesetzes verabschiedet. Ein Einvernehmen zwischen Regierung und Opposition über eine gemeinsame Änderung ist schließlich an den jeweiligen parteitaktischen Erwägungen gescheitert. Die Parteien im Bundestag haben fürChancen auf kurzfristige Achtungserfolge ihre staatspolitische Verantwortung aufgegeben und obendrein das Bundesverfassungsgericht brüskiert. Sie nötigen Karlsruhe nicht nur, eine verfassungsrechtliche Überprüfung mit neuen Vorgaben für ein Wahlgesetz vorzunehmen, sondern an die Stelle des Gesetzgebers zu treten und praktisch ein fertiges Gesetz zu erlassen. So appellierte der politische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, als einer der Klägervertreter an das Gericht, es möge klare Regeln schaffen, sonst drohe ein zermürbender Dauerstreit zwischen Gesetzgeber und Gericht. Unverblümter ist eine politische Bankrotterklärung kaum abzugeben.

Es spricht einiges dafür, dass auch das von Schwarz-Gelb verabschiedete Wahlgesetz in Teilen wieder in Karlsruhe scheitern wird. Nach Expertenmeinungen könnten bei einem systematischen Stimmensplitting im linken Parteienspektrum die Sozialdemokraten mit 40 bis 50 Überhangmandaten rechnen. Einige Berechnungen kommen sogar auf weit mehr als 60 möglicher Ausgleichsmandate. Dass ausgerechnet einer der Kläger gegen das Gesetz letztlich Hauptbegünstigter sein könnte, entbehrt letztlich nicht einer gewissen Ironie.

Sollte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts um seinen Vorsitzenden Andreas Voßkuhle tatsächlich in die Rolle eines illegitimen Ersatzgesetzgebers schlüpfen und die von Oppermann geforderten "klaren Regeln" aufstellen, ist eine Achsenverschiebung der Gewalten in Deutschland nicht mehr abzustreiten. Der staatspolitische Flurschaden wäre perfekt. Die Parteien wollen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihrer verfassungsrechtlichen Verantwortung, die sie für diesen Staat tragen, partout nicht nachkommen. Darin liegt das eigentliche Ärgernis. Sie haben sich gründlich verkalkuliert und das Verfassungsgefüge ohne Not in Bredouille gebracht .

Den Verfassungsrichtern bleibt gar keine andere Wahl, als das Begehren der Opposition nach Ersatzgesetzgebung zurückzuweisen, das Gesetz der Regierungskoalition auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, ggf. zu beanstanden und ihrerseits einen allerletzten Appell an die Parteien zu richten, nach der Bundestagswahl 2013 einen gemeinsamen Anlauf für eine Wahlrechtsreform zu unternehmen. Diesem Appell sollten die politischen Parteien tunlichst nachkommen. Es ist bereits fünf nach zwölf.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen

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