Der Mensch als ökonomisches Monster

Schirrmacher Physiker entern die Wall Street und kreieren dank Spieltheorie reale Monster: ein zweites Ich, profitorientiert und durchökonomisiert. Keine Fiktion, sondern Realität

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„Das Gruselkabinett des 19. Jahrhunderts – ‚Frankenstein’, ‚Dr. Jekyll und Mr. Hyde’ und ‚Dracula’ – versammelt Monster, die eines gemeinsam haben: Es sind in Wahrheit allesamt Monster der Ökonomie. Sie sind Nummer 2 vor der Erfindung des Computers: in der Version des mechanistischen Zeitalters.“

Was im 19. Jahrhundert noch literarische Fiktion war, ist im 21. Jahrhundert durch namhafte Physiker, die nach dem Ende des Kalten Krieges an der Wall Street anheuerten, Realität: Das Monster ist Realität und lebt ins uns. So die These von Frank Schirrmacher. Er widmet sich in seinem neuesten Werk. „Ego – Das Spiel des Lebens“ der Frage, wie Physiker und ihre Methoden aus den US-amerikanischen Denkfabriken des Kalten Krieg nach 1989 plötzlich neue Aufgaben brauchten.

Physiker heuerten also in den Neunzigerjahren flächendeckend an der Wall Street an. Im Gepäck allerlei Spieltheorien und ebenjene Denke aus dem Kalten Krieg, das nun in die Prachtbauten der Wall Street einzog: „Es sind exakt die Verhaltensweisen die in den Fünfzigerjahren – vor allem unter amerikanischen Physikern, Militärs und Ökonomen – synthetisch produziert worden sind (...) Der Kalte Krieg ist nicht vorbei, nur das Theatre of War, der Kriegsschauplatz, hat gewechselt.“

Schirrmacher zeichnet ein düsteres Bild, ein düsteres Menschenbild. Ein Menschenbild, das von der Wall Street mithilfe der Physiker und Mathematiker geplant und in unser aller Bewusstsein implementiert wird. Jetzt, in unserer Gegenwart.

Der homo oeconomicus, eine von unserem Ich abgespaltene eigene Persönlichkeit, erlangt kraft der Spieltheorie und der neoklassizistischen Ökonomie der Wall Street Universalgeltung: „Unzählige Autoren (...) haben (...) gezeigt, dass die Annahmen, die dem ‚homo oeconomicus’ zugrunde liegen, der Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche und (...) Gesellschaft nicht gerecht werden. Und dennoch vertritt dieses Buch die These, dass er, den wir auf diesen Seiten Nummer 2 nennen, irgendwann in den letzten Jahren buchstäblich zum Leben erweckt worden ist und zu etwas wurde, was der verantwortungsvolle Teil seiner Schöpfer niemals wollte.“

Das klingt nach starkem Tobak, nach Verschwörungstheorie. Frank Schirrmacher, der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der letzten Bastion wahrhaftiger Bürgerlichkeit, verbreitet nichts weniger als haarsträubende Verschwörungstheorien, vergleicht literarische Monster wie Frankenstein mit dem Facebook-User der Gegenwart, der ein zweites Ich „Nummer 2“ durch und durch ökonomisiert in sich trägt, gar den puren ökonomischen Egoismus in unsere Gene implementiert? Und das alles gesteuert von der Wall Street in New York?

Wer Schirrmacher jedoch als Verschwörungstheoretiker etikettiert, greift zu kurz. Er bedient sich vielmehr einer gewaltigen Bildsprache, um dem von ihm herausgearbeiteten Prozess der vollständig durchökonomisierten Gesellschaft einen angemessenen Rahmen zu verpassen. Es scheint anders nicht mehr greifbar bzw. begreifbar zu machen, dass die neoklassizistische Ideologie längst mit anderen Mitteln kämpft. Informationstechnik und Spieltheorie wurden dafür nutzbar gemacht. So hat sie die anderen Wettbewerber auf dem Ideologienmarkt längst abgehängt.

Informationstechnologie + Spieltheorie = maximale Ökonomie

Finanzmärkte und ihre Spieltheorie sind längst mit der natürlichen Person verwoben. Als Brücke dient(e) die Informationstechnologie: „Warum eigentlich wollen das Netz und das Handy und die mächtigen Firmen, die dahinterstehen, wissen, was wir als Nächstes tun und denken? Weil unser Tun und Denken Spielzüge sind. Der Mensch wird User, der User wird Konsument und der Konsument wird Nummer 2: auf der Suche nach den besten Preisen, Kontakten, kurz: den besten Informationen in der neu entstandenen angeblichen ‚Informationsökonomie’.“

Und Schirrmacher geht sogar einen Schritt weiter, indem er einen Ausschnitt von Philipp Bobbitts Terror and Consent: the Wars for the Twenty-First-Century zitiert und prognostiziert, dass der Staat in naher Zukunft weniger demokratischen Idealen anhängen, sondern sich auf die „Nummer 2“ in uns vollkommen einstellen wird: „Der Staat (...) wird viele Funktionen outsourcen, weniger auf Gesetze und Regulierung, sondern mehr auf Marktanreize setzen und viel häufiger auf eine ständig wechselnde und ständig ausgewertete Nachfrage von Konsumenten reagieren, nicht auf relativ seltene Wählerpräferenzen bei Wahlen.“

Stehen wir also vor einer ökonomischen Apokalypse? Längst ist offensichtlich, dass sich das Kapital ins Internet verlegt hat und alles versucht, sich auszubreiten. Personalisierte Werbung auf Facebook ist nichts anderes als das Produkt, permanent Informationen über den Konsumenten zu gewinnen. Aber Schirrmacher geht noch zwei, drei Schritte weiter und postuliert, dass das Kapital nicht nur vom Internet Besitz ergriffen hat, um sich zu vermehren, sondern über das Internet Besitz von uns ergreift. Der Mensch soll keine Wahl mehr über das Wirtschaftsmodell haben, sondern eins werden mit der sogenannten Informationsökonomie.

Nun will man entgegenhalten, was denn mit dem Primat der Politik sei? Dazu schreibt Schirrmacher, „Staaten sind jetzt ökonomisch in ihrem Handlungsspielraum so eingesperrt, wie es die Welt des Kalten Kriegs militärisch war.“

Schirrmacher rechnet schließlich vollends ab. Die alte Ordnung scheint für ihn erledigt. Selbst die soziale Marktwirtschaft entpuppt sich nach dem FAZ-Mitherausgeber als nur eine Spielvariante des ganz großen Spiels: „Während gesellschaftliche Konflikte zwischen Realwirtschaft, Staat und Gesellschaft jahrzehntelang und insbesondere in Deutschland unter dem Begriff ‚soziale Marktwirtschaft’ kooperativ gespielt wurden, spielen die internationalen Finanzmärkte nun zunehmend ein nicht kooperatives Nullsummenspiel mit der Gesellschaft: Des einen Gewinn ist des anderen Verlust.“

Welches Resümee lässt sich aus diesem Werk ziehen? Schirrmacher möchte am Ende nur Fragesteller sein. Ein unbeteiligter Dritter, der in der Mitte steht und Fragen postuliert. Allein darin mag er Veränderung erkennen und zitiert zu guter Letzt Paul Valéry, „‚Vielleicht’, heißt es an einer Stelle, ‚werden die Monster Ideenungeheuer, durch die naive Ausübung unserer Frage-Fähigkeit, die wir ein bisschen überall betätigen, ohne zu bedenken, dass wir vernünftigerweise nur das befragen sollten, was uns wirklich antworten kann?’.“

Hier stiehlt sich Schirrmacher zu leicht aus der Affäre und hierin liegt auch die große Gefahr, dass sich sein Werk in einer Art intellektuellem Entertainment erschöpft. Er präsentiert uns auf 352 Seiten Ungeheuerlichkeiten, die durch die Anschauung der Gegenwart plausibel erscheinen. Dann aber reicht es nicht mehr, aus dem Elfenbeinturm die Missstände zu verkünden. Allein zu hinterfragen reicht nicht aus. Es ist lediglich ein Anfang.

In einem Spiegelinterview mit Jan Fleischhauer aus der vergangenen Woche, fragt der Spiegeljournalist, ob Schirrmacher es als Beleidigung auffasse, heute als links bezeichnet zu werden. Schirrmacher sagte, „ich bin (...) nur Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte.“ Wiederum verwendet er den Topos vom „unbeteiligten Dritten“.

Schirrmachers „Ego – Das Spiel des Lebens“ schreit nur so, sich der informationskapitalistischen Logik zu widersetzen. Jetzt sollte er sich nur noch überwinden zu sagen: „Ja, ich bin heute links.“

Frank Schirrmacher: "Ego - Das Spiel des Lebens" erschienen am 18.02.2013 im Karl-Blessing-Verlag 352 Seiten, 19,99 Euro

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen

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