Die Twitter-Blase

Mikrokosmos Twitter in Deutschland ist die derzeit größte Medienblase. Es lebt davon, dass Journalisten ungefiltert Tweets in ihren Publikationen aufnehmen - mehr Schein als Sein

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Es gibt unter Politikern Twitternutzer aus Leidenschaft wie beispielsweise Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen. So kann es geschehen, dass im Bundestagsbüro keiner seiner Mitarbeiter weiß, wie man ihn erreichen kann, während eine Direktmessage via Twitter eine Antwort von Volker Beck binnen weniger Minuten garantiert. Es gibt auch Politiker wie Renate Künast, die klammheimlich Anfang des Jahres bei Twitter aufgetaucht sind und sich durch ein Team den Anschein eines digitalen Bohemiens geben.

Twitter ist durchlässig. Twitter macht eine Diskussion unter fremden Menschen leichter möglich als die starren sozialen Netzwerke wie Facebook und Google Plus. Durch Funktionen wie den Hashtag (#) lassen sich Debatten so gut bündeln, dass sich jeder aktive Twitternutzer spielend leicht daran beteiligen kann. Facebook hat dieser Tage nachgezogen und den Hashtag auch auf seiner Seite etabliert. Das Netzwerk von Mark Zuckerberg ist damit auch wenig durchlässiger geworden.

Können Politiker durch die neue digitale Welt die analoge Bundestagswahl beeinflussen, durch eine Omnipräsenz auf Twitter virtuelle Bürgernähe demonstrieren? Wer annimmt, Twitter wird die Bundestagswahl 2013 entscheidend mitbestimmen, übersieht, dass dieses soziale Netzwerk trotz seiner immer wieder medial gehypten Bedeutung ein Mikrokosmos bleibt. Nur eine verschwindend geringe Prozentzahl gemessen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland hat einen Twitter-Account, den er auch aktiv nutzt.

Die mediale Kraft des Mikro-Bloggingdienstes ist wesentlich größer als seine Substanz. Anfang des Jahres beispielsweise hat Volker Beck den Candystorm erfunden. Ein Gegenentwurf zum berühmtberüchtigten Shitstorm. Grund dafür ist die grüne Urwahl gewesen, die Claudia Roth ganz abgeschlagen mit etwa 25 Prozent Zustimmung auf den letzten Platz verbannt hatte. Sie hat sich schwer getan, dachte daran, aufzuhören. Volker Beck initiierte den Candystorm und Claudia Roth blieb eine der Parteivorsitzenden.

Der Begriff hat mittlerweile einen eigenen Eintrag bei Wikipedia. Er hat sich aus Twitter emporgehoben und ist durch die Mithilfe der Medien teilweise in die analoge Welt vorgeprescht. Beim Candystorm machten dann vielleicht ein Dutzend grüne Twitternutzer mit. Im medialen Buhei hat dann aber eine unüberschaubare Menschenzahl ihre Solidarität mit der ehemaligen Managerin von Ton, Steine, Scherben bekundet.

Wirklich in Twitter reinschauen wollte dann keiner mehr so genau.

Der mediale Buhei ist vor allem damit zu erklären, dass viele Journalisten, ja selbst Nachrichtenagenturen das Twittergeschehen ungefiltert aufnehmen ohne einmal genau auf die Substanz dahinter zu achten. Viele Twitterereignisse wären analog betrachtet nicht einmal eine Zeile unter der Rubrik Verschiedenes wert. Aus Twitter heraus können dennoch ganz große Mediendebatten erwachsen wie jüngst erst die neue Feminismus-Debatte unter dem Hashtag #Aufschrei.

Aber auch beim #Aufschrei haben wesentlich weniger Menschen auf Twitter partizipiert, als es von den Medien vermittelt worden ist. Man muss die Frage stellen, inwieweit Leitdebatten aus einem Mikrokosmos heraus entstehen sollten. Und wie die analoge Welt am Entstehensprozess von Leitdebatten weiterhin beteiligt werden kann.

Irgendwann wird sonst die Kluft zwischen medialer Verklärung und tatsächlicher Substanz so übermächtig, dass die Twitter-Party zu Ende gehen könnte.

Nach knapp einem Jahr auf dem Selbsterfahrungstrip ist es nicht mehr zu übersehen, Twitter ist eine Blase und hat Potential zugleich. Der Anfang ist schwer, aber mitunter können Diskussionen auch Spaß machen. Manchmal fällt es schwer, den Tatort-Plot zu verfolgen, weil man ganz eifrig einen guten Tweet auf dem sogenannten Second-Screen absenden möchte.

Der Autor hat es mit seinem Twitter-Account schon in die tagesthemen der ARD, in eine Überblickssendung von Phoenix und in eine Wahlsendung des NDR geschafft. Spielend leicht und eher nebenbei.

Sieht man von den digitalen Ureinwohnern einmal ab, ist Twitter im politischen Bereich mittlerweile eine Spielwiese und Kommunikationsplattform zwischen Politikern und Journalisten. Man kann guten Gewissens von einer Twitter-Blase sprechen.

Medien und soziales Netzwerk sollten sich selbst zurechtstutzen, die Blase platzen lassen und dann das wirkliche Potential nutzen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen

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