Im Stammbuch der inneren Sicherheit

Bad Kleinen Ein Dokumentarfilm über die Geschehnisse vor 20 Jahren zeigt auf, dass die Defizite des bundesdeutschen Sicherheitsapparats bis in die Gegenwart verschleppt wurden

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Im Stammbuch der inneren Sicherheit

Bild: Arte.tv

Das Neue Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ist Anfang der 90er Jahre Schmelztiegel für die ersten politischen Krisen des jungen wiedervereinigten Deutschland. 1992 brannte in Rostock-Lichtenhagen ein Asylbewerberheim mit überwiegend vietnamesischen Bewohnern. Ein Mob aus frustrierten Wendeverlierern konnte seinen Zorn und seine Gewalt ungehindert ausleben. Die Polizei schaute tatenlos zu.

1993 rückte das kleine Bundesland im Nordosten erneut in den Fokus der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Dieses Mal ist ein Bahnhof in einem 3500-Seelen-Nest Mittelpunkt des Geschehens: der Bahnhof in Bad Kleinen. Dort hört die RAF de facto auf zu existieren.

Es ist der 27. Juni 1993. Die mutmaßlichen RAF-Terroristen der dritten Generation Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld können vom Bundeskriminalamt zusammen mit der Eliteeinheit GSG-9 festgenommen werden. Mit dieser Festnahme hat die RAF ihre Führungsebene auf einen Schlag verloren. Eine vierte Generation wächst nicht mehr heran. 1998 löst sich die RAF schließlich offiziell auf.

Die Festnahme vor 20 Jahren läuft allerdings aus dem Ruder. Davon erzählt der Dokumentarfilm „Endstation Bad Kleinen – vom Versagen deutscher Sicherheitsorgane“ von Anne Kauth. Am Ende sind ein GSG-9-Beamter und Wolfgang Grams tot, und das wiedervereinigte Deutschland erlebt seine erste große Vertrauenskrise in Polizeiarbeit und Rechtsstaatlichkeit.

Nach dem Zugriff müssen viele Personen in den höchsten Führungsgremien ihre Posten räumen, darunter der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) und der damalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl. Gerüchte machen die Runde, Wolfgang Grams sei vorsätzlich erschossen worden – Exekution von Staatswegen. Wochenlang dementieren die Staatsorgane, dass eine dritte Person bei der Festnahme involviert gewesen sei. Klaus Steinmetz, ein V-Mann des Verfassungsschutzes, wie sich schließlich herausstellen sollte.

Was ist bei und nach der Festnahme schief gelaufen? Der Film rekonstruiert auf knapp 60 Minuten zunächst detailliert die polizeiliche Observation von Birgit Hogefeld und Klaus Steinmetz. Lange bevor sich der Bahnhof in Bad Kleinen in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik einbrennen soll, ist ein geordneter Zugriff in einer Wohnsiedlung in Wismar geplant.

Dazu kommt es jedoch nicht. Die Ermittler hören ein Telefonat Hogefelds mit, die sich in Bad Kleinen noch mit „Freunden“ treffen will. Das BKA wittert die Chance, weitere Mitglieder der RAF festnehmen zu können. Hektisch wird an einem Zugriffsplan in der Bahnhofsunterführung gebastelt.

Der Einsatz misslingt wegen Kommunikationsfehlern via Walkie-Talkie. Während Hogefeld und Steinmetz in der Bahnhofsunterführung festgesetzt werden können, gelangt Wolfgang Grams zum Bahnsteig.

Die Geschehnisse auf dem Bahnsteig bleiben bis heute unaufgeklärt

Anne Kauth versucht in ihrem Film Licht ins Dunkle zu bringen, Klarheit zu schaffen. Mit Computeranimationen stellt sie nach, wie Wolfgang Grams letztlich auf dem Gleisbett landet und wer für seine tödliche Verletzung am Kopf verantwortlich sein könnte.

Eine Stärke des Films liegt darin, dass eben gerade nicht plump von Verschwörungstheorien einer gezielten Staatsexekution geredet, sondern nüchtern all das zusammengetragen wird, was Zweifel an der einen wie an der anderen Version aufkommen lässt.

Letztlich bleibt es bei einem Fazit, das Juristen ein sogenanntes „non liquet“ nennen. Aus dem lateinischen übersetzt heißt dies „es ist nicht klar“. Es ist nicht klar, ob sich Wolfgang Grams selbst erschossen hat oder ob GSG-9-Beamte Hand angelegt haben. An beiden Versionen bestehen Zweifel.

So unklar die Verstrickungen der GSG-9-Beamten beim Tod von Wolfgang Grams auch nach diesen 60 Minuten bleiben, wird in diesem Film eines um so klarer: Die Staatsorgane haben im Nachgang von Bad Kleinen versagt, und schlimmer noch: diese Defizite halten sich strukturell bis heute.

So ist dieser Dokumentarfilm nicht nur ein Zeugnis jüngerer Zeitgeschichte, sondern wird auf erschreckende Weise zum Spiegelbild der Gegenwart.

Ein Hauptproblem für die verschiedenen Behörden ist die Kommunikation

1993 hat vor allem der Mangel an hinreichender Kommunikation der staatlichen Behörden nach innen und nach außen dazu beigetragen, den Mythos von einer Staatsexekution zu befördern. Zum einen leugneten die Staatsorgane über Wochen den Umstand, dass Klaus Steinmetz als V-Mann des Verfassungsschutzes bei der Festnahme zugegen war. Der Verfassungsschutz hatte kalkuliert, ihn wieder in die linksterroristische Szene einschleusen zu können. Ein fataler Fehler, wie sich schon im Sommer 1993 herausstellen sollte.

Zum anderen unterband die politische Führungsebene dem Einsatzleiter des BKA, Jürgen Peter, zusammen mit anderen an der Festnahme beteiligten Polizeiführern auf einen Artikel im Spiegel eine Entgegnung zu schreiben. So konnte der Skandal auch medial ungezügelt voranschreiten.

Die Brücke, wie unglücklich der Verfassungsschutz in der NSU-Affäre agiert hat und in welchem Ausmaß Kommunikationsfehler zwischen Behörden auch heute noch systemimmanent sind, schlägt der Film von ganz allein.

Die NSU-Morde sind in diesem Ausmaß nur deshalb möglich gewesen, weil Polizei und Verfassungsschutz nur unzureichend miteinander kommuniziert haben.

Das Kommunikationsdesaster um Bad Kleinen scheint im Stammbuch der Sicherheitsbehörden fest verankert.

Der Film ist Anfang Juni in der Berliner Landesvertretung von Mecklenburg-Vorpommern der Presse und Interessierten gezeigt worden. In einer anschließenden Fragerunde meldet sich ein Vertreter des Bundesinnenministeriums zu Wort, der Film sei zu einseitig und würdige den großen Erfolg, die Gruppe besiegt zu haben, zu wenig. „Die GSG-9 hat hemmungslos gemordet.“ Ein Raunen geht durch das Publikum. Der Vertreter des Bundesinnenministeriums korrigiert sich wenig später, selbstverständlich sei die RAF gemeint.

Der Dokumentarfilm „Endstation Bad Kleinen – vom Versagen deutscher Sicherheitsorgane“ läuft am Dienstag, den 18. Juni 2013 auf Arte

Der Dokumentarfilm „Endstation Bad Kleinen – vom Versagen deutscher Sicherheitsorgane“ läuft am Dienstag, den 18. Juni 2013 auf Arte

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Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

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