Was entgegnet werden muss!

Offener Brief Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben: "Was gesagt werden muss." Allenthalben hagelte aus der Medienlandschaft Kritik. Jakob Augstein ist Grass beigesprungen

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Ihre Freitag-Redaktion

Sehr geehrter Herr Augstein,

zunächst möchte ich Sie zu Ihrem persönlichen Erfolg beglückwünschen. Während die durchschnittlichen Facebook-Empfehlungen Ihrer Kolumnen bei SPON "Im Zweifel links" sich zwischen 500 und 1000 Klicks bewegen, können Sie nicht einmal 24 Stunden nach Veröffentlichung Ihres jüngsten Debattenbeitrags: "Es musste gesagt werden" auf mehr als 5000 solcher Likes schauen - wohlgemerkt das ist nur die Zählung des Social-Plugins, die eigenständigen Linkempfehlungen sind da noch nicht einmal miterfasst.

In diesem Beitrag schlagen Sie sich fast allein auf weiter Flur als einer der bekannteren politischen Kommentatoren auf Günter Grass' Seite. Sie bescheinigen ihm politischen Realismus, "Grass ist weder Antisemit noch ein deutscher Geschichtszombie. Grass ist Realist." und beziehen Stellung trotz des von Ihnen nicht geteilten Topos "das Schweigen als Last zu empfinden". Es geht um nicht weniger, als "die Atommacht Israel als Gefährdung für den ohnehin schon brüchigen Weltfrieden" (Grass).

Für Sie selbst hat sich bei diesem Beitrag einmal mehr die Gelegenheit geboten, die Kanzlerin in den Fokus zu rücken, ihre Worte von der israelischen Sicherheit als Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland zu geißeln und darin "Geschichtsbewältigung mit militärischer Komponente" zu erblicken.

Was Sie beim Topos über "das Schweigen als Last" nicht mitmachen wollen, lassen Sie nun mit der Kritik an Bundeskanzlerin Merkel durch die Hintertür wieder hinein, "es muss uns nämlich endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen, die sie im Jahr 2008 in Jerusalem gesprochen hat", ebenjene Worte von der Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson.

Einen "Schatten" darin zu sehen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland der bisher einzigen Demokratie im Nahen Osten an die Seite stellt, entbehrt jeder Grundlage. Wenn Israel durch den "Maulhelden von Teheran" angefeindet wird, "das Regime, das Jerusalem besetzt hält, muss aus den Annalen der Geschichte getilgt werden" oder "der Zionismus sei wie ein Krebsgeschwür, wo es auftaucht, breite es sich aus und muss entfernt werden", dann ist es nicht mehr zu übersehen, Israel ist in seiner Existenz bedroht.

Gerade vor dem Hintergrund, dass Israel seit der Staatsgründung 1948 auch militärisch seine Existenz im Nahen Osten behaupten muss und bis in die Gegenwart durch den Iran in seiner Existenz bedroht wird, ist es mehr als fragwürdig das Wort "Schatten" zu verwenden. Von der historischen Verantwortung der Bundesrepublik 'mal ganz zu schweigen.

Sowohl Günter Grass als auch Sie als sein Souffleur treiben nun einen Paradigmenwechsel voran, bei dem am Ende nicht abzusehen ist, welche Meinungen und Positionen, die lange an den Ketten der politischen Korrektheit fixiert gewesen sind, zum Vorschein kommen.

An dieser Stelle teile ich Ihre Ansicht von den wohl "wirkmächtigsten Worten" Günter Grass'. Sie sollten dabei jedoch nicht verkennen, was sich nach diesem Paradigmenwechsel bahnbrechen kann.

Selbst in dem Online-Forum von freitag.de, dem linken Meinungsmedium, konnte man schon wenige Stunden nach Veröffentlichung des Gedichts in einem Blogbeitrag "von dem fast schizophrenen Verfolgungswahn der Juden" -"entwickelt über die Jahrhunderte in der Diaspora"- lesen, um damit den aktuellen "Wahnsinn" israelischer Politik zu begründen.

Ich teile Ihren Ansatz, sich von der politischen Korrektheit als Instrument eines gelenkten Diskurses zu verabschieden, den Weg dahin teile ich nicht.

Letztlich begeben Sie sich auch in sehr graue Gefilde wenn Sie schreiben, "mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss...", ohne zu erwähnen, dass auch weitere Lobbygruppen bezirzt werden müssen, wie die Waffenorganisation NRA, diverse Wirtschaftsverbände sowie afro-amerikanischen Interessengruppen, die Latinos u.v.m. Das gehört zum absoluten Standardprogramm eines US-Präsidentschaftskandidaten.

Mein Anliegen an dieser Stelle ist, dass man trotz der jetzt wohl sukzesssiv eintretenden Freiheitstrunkenheit im Diskurs die Argumente und Bilder weiterhin mit Maß und Verhältnismäßgikeit wählt, da man sonst antiisraelischen Ressentiments Vorschub leistet und das ist verwerflich, egal wie der Diskurs in Zukunft ausgestaltet ist.

Und vor allem dort, wo unter dem Deckmantel des freiheitlichen Diskurses antisemitische Gedanken verbreitet werden, gilt es weiterhin mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten und jenseits der politischen Korrektheit die Absurdität der Gedanken offenzulegen und abzulehnen.

Mag die Diskursöffentlichkeit in Zukunft nun ein Stück mehr Freiheit erhalten, die Verantwortung der Vergangenheit bleibt bestehen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Daniel Martienssen

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

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