Der Schriftsteller Navid Kermani hat eine brillante Rede im Bundestag gehalten. Nach Papst Benedikt XVI., der im September 2011 im Bundestag eine geistreiche Rede zum Verhältnis des Naturrechts zum positiven Recht gehalten hat, durchströmt erneut intellektueller Esprit den Plenarsaal.
In den Medien ist die Rede überwiegend positiv aufgenommen worden. Dagegen weitgehend unbeachtet ist die des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) geblieben. Wenn man ihm aber genau zuhört, versteckt sich darin unverhohlen eine Generalabrechnung mit dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
In Anwesenheit des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle sagte Norbert Lammert: "Es gibt den gelegentlichen Ehrgeiz des Verfassungsgerichts die geltende Verfassung durch schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln." Eigentlich wäre dieser Satz isoliert gesehen harmlos, womöglich ein Leersatz, möchte man dem Bundestagspräsidenten doch zurufen, dass das Gericht doch genau dafür geschaffen worden ist.
Schon oft hat Karlsruhe schöpferisch das Grundgesetz fortentwickelt: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht -abgeleitet aus Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes- zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht in den 1950er und 1960er Jahren aus dem Boden gestampft, das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme -kurz Internetgrundrecht- hat das Bundesverfassungsgericht erst 2008 aus den beiden vorngenannten Artikeln des Grundgesetzes neu kreiert und niemand hat daran Anstoß genommen.
Wie sollten 1949 die Väter und Mütter des Grundgesetzes am Beispiel des Internetgrundrechts eine solche informationstechnische Entwicklung voraussehen können? Sie konnten jedenfalls abstrakt voraussehen, dass sich die Gesellschaft ändern wird und haben deshalb ein unabhängiges Gericht geschaffen, das als Hüter der Verfassung auch auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können muss.
Dass sich das Bundesverfassungsgericht über die formale Kontrolltätigkeit der anderen Verfassungsorgane hinaus eine Stellung erarbeitet hat, auch durch "schöpferische Auslegung" das Grundgesetz zu interpretieren, gehört seit Jahrzehnten zur Verfassungswirklichkeit in Deutschland.
Nun kritisiert Lammert in seiner Rede diese "schöpferische Auslegung". Ja er stellt sie sogar damit gleich, dass der Gesetzgeber manchesmal an die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit Gesetzesvorhaben voranbringen möchte und dann von Karlsruhe zurecht gestoppt werden müsse. Es ist nicht mehr zu übersehen, dass Lammert die schöpferische Tätigkeit in Karlsruhe für illegitim hält.
Dabei würde Lammert das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Internetgrundrecht sicherlich niemals infrage stellen. Zumindest das allgemeine Persönlichkeitsrecht gehört mittlerweile seit vielen Jahrzehnten zur Verfassungsidentität in Deuschland. Nein, daran stört sich Lammert nicht.
Lammert stört sich vor allem an der Rechtsprechung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft, die am Maßstab des Artikels 3 GG nunmehr sukzessive der Ehe angeglichen wird. Schon bald wird in Karlsruhe entschieden sein, dass Ehepartner und Lebenspartner bei der Auswahl für eine Adoption nicht mehr ungleich behandelt werden dürfen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft geht dann faktisch in der bürgerlichen Ehe auf.
Genauso wie Karlsruhe Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes mit neuen Grundrechten fortentwickelt hat, überwacht das Gericht, dass Artikel 3 des Grundgesetzes nicht nur formale Verfassungswirklichkeit darstellt. Wer die Rechtsprechung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft kritisiert, muss konsequenterweise auch gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht Position beziehen.
Für viele Konservative mag die Rechtsprechung, die eingetragene Lebenspartnerschaft mit der bürgerlichen Ehe anzugleichen, ein regelrechter Albtraum sein. Daraus jetzt aber eine politische Agenda zu machen und womöglich die schöpferische Gestaltung aus Karlsruhe, die einer lebendigen Verfassung so systemimmanent ist, abwürgen zu wollen, ist ein fatales Signal für den bundesrepublikanischen Verfassungsstaat.
Kommentare 10
Und es hätte so viel einfacher, zeit- und nervensparender sein können: 3+
Statt das Bundesverfassungsgericht °schöpferischer Tätigkeit° zu bezichtigen, läge mir persönlich die Geißelung unserer Legislative für ihre oft unterirdisch schlechte Arbeit näher, die das Bundesverfassungsgericht ständig zur Wiedervorlage an die Gesetzgeber zurück reichen muß.
Die Rede von Navid Kermani, daraus:
Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten. Ein wundervoll bündiger Satz ‑ „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ ‑ geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat.
(Beifall)
Muss man tatsächlich daran erinnern, dass auch Willy Brandt, bei dessen Nennung viele von Ihnen quer durch die Reihen beifällig genickt haben, ein Flüchtling war, ein Asylant?
Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen.
(Beifall)
Andere ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen.
(Beifall)
Und es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben, damit sie nicht auf das Asylrecht zurückgreifen müssen.
(Beifall)
Denn von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, kann auch zwei Jahrzehnte später keine Rede sein, und schon sprachlich schmerzt der Missbrauch, der mit dem Grundgesetz getrieben wird. Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16 seine Würde genommen.
(Beifall)
Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem hässlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein, verehrte Abgeordnete.
Ich frage mich ja, wer da eigentlich nach geradezu jedem Satz applaudiert hat? Waren CDU/CSU und SPD nicht vor Ort?
Der "Asylkompromiss" und die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl diente als Blaupause für die Flüchtlingsabwehr mit militärischen Mitteln an den europäischen Außengrenzen. Er wurde durch das Einknicken der SPD nach über einem Jahrzehnt fortgesetzter Hetze gegen "Ausländer" der CDU/CSU ermöglicht, als Reaktion auf das Staatsversagen vor, während und nach dem von westdeutschen Rechtsextremisten konzertierten Pogrom in Rostock-Lichtenhagen.
Das ist ein Anlaß zu Scham und ein Grund für schnellstmögliche Wiedereinführung des ursprünglichen Artikel 16, nicht für leeren hohlen Beifall.
Man lese mal nach, wie der Artikel 16 ins Grundgesetz kam, daraus:
Für die Skeptiker wandte gegen ein schlichtes (und daher offenes) Asylrecht Hermann Fecht (CDU) ein, es würde zum Beispiel italienischen Faschisten ein Unterschlüpfen in der zukünftigen Bundesrepublik erlauben.
Carlo Schmid hielt diesem Argument sehr energisch entgegen, das Asylrecht gelte im Rahmen eines völkerrechtlichen Konsenses, wonach politische Attentäter und Mörder jederzeit auszuliefern seien. Darüber hinaus sei die Asylgewährung immer auch eine Frage der Generosität, und wer generös sein wolle, müsse riskieren, „sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben“.
Carlo Schmid weiter: „Wenn man eine Einschränkung vornimmt, etwa so: Asylrecht ja, aber soweit der Mann uns politisch nahesteht oder sympathisch ist, so nimmt das zuviel weg.“
Diese Argumentation wurde durch von Mangoldt ausführlich unterstützt: „Ich brauche nur darauf hinzuweisen, wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgend etwas ausnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift wertlos.“
Wiederum Carlo Schmid: „Dann beginnt das Spiel: Man schickt den Mann zurück, oder man schickt ihn an die andere Grenze, und von dort geht es wieder weiter.“
Wer würde in diesen Worten nicht die Odyssee heutiger Asylsuchender wiedererkennen?
Ja, leider haben Sie recht. Die Abgeordneten haben wahrscheinlich dies nur stoisch ertragen und wissen, es ist eine Feier und die ist auch bald wieder vorbei und dann haben wir wieder das (Nicht-)Sagen.
Ich habe beim Abfassen dieses Blogbeitrages eigentlich auch gern Kermanis Rede weiter beleuchten wollen, bis ich gemerkt habe, dass ich ein wenig vom Thema abkomme. Diese Rede hat so viel linksintellektuellen Esprit gehabt, wie man das im politischen Berlin nur selten wahrnehmen kann. Hier hat einer für einen kurzen Augenblick einmal Merkels Konsensschleier gelüftet und einfach vom Leder gezogen.
Vielleicht ist die Konsensverneblung der Grund, warum alle einfach weitergeklatscht haben. Nur ein Abgeordneter von der CSU, Georg Nüßlein, hat den Plenarsaal verlassen - der Rest freute sich einfach auf's Wochenende...
Das Bundesverfassungsgericht und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - immer wieder für einen Disput gut.
Nachdem das Gericht der seit Jahren CDU/CSU geführten Bundesregierung in den vergangenen Jahren etliche Verstöße gegen das Grundgesetz nachwies und - z.B. in Sachen Gleichbehandlung von Schwulen und Lesben eine Beendigung der bisherigen verfassungswidrigen Praxis - anmahnte, fühlen sich die Diskriminierer offenbar in ihrem (nicht vorhandenen) „Grundrecht auf Diskriminierung“ eingeschränkt.
Zuerst tönte CDU-Sirene (und Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung :-) ) Erika Steinbach auf Twitter: „Wer schützt uns vor den Verfassungsschützern“ und jetzt hat sich der „Xantener Kreis“ der Union dafür ausgesprochen die Rechte des BVerfG einzuschränken.
Ich denke, die aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gewonnenen Erkenntnisse, dass nur eine strikte Gewaltenteilung (die eine Kontrolle von Regierungspolitik durch das Bundesverfassungsgericht einschließt) gewährleistet, dass Regierungen nicht willkürlich eigene Klientel bevorzugen und ungeliebte Gruppierungen benachteiligen, ist bei der Union nie wirklich akzeptiert worden.
Dann muss man Leute wie Volker Kauder oder Wolfgang Bosbach eben immer wieder daran erinnern, dass sie keine „Narrenfreiheit“ genießen …
http://www.queer.de/detail.php?article_id=21341
http://www.queer.de/detail.php?article_id=20072
http://www.queer.de/detail.php?article_id=17935
http://www.queer.de/detail.php?article_id=17891
Auch in SPD geführten Bundesländern ist der Staatsanwalt, also der, der mit der Rassel auf die Verfassungsebene hinweisen sollte, "Weisungsgebunden", also nix vormachen bitte, Einzelfälle gab es in den vergangenen 50 Jahren genug...
Gruss
@TLACUACHE schrieb am 24.05.2014 um 17:59 Uhr u.a.
„Auch in SPD geführten Bundesländern ist der Staatsanwalt, also der, der mit der Rassel auf die Verfassungsebene hinweisen sollte, "Weisungsgebunden", also nix vormachen bitte …“
Den Hinweis verstehe ich, in Bezug auf Bundesgesetze, um die es mir bei dem Hinweis auf inzwischen rechtskräftige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Gleichbehandlung schwuler und lesbischer Lebenspartnerschaften ging, nicht wirklich.
Dass die SPD - entgegen vollmundiger Wahlversprechen, wie „100 % Gleichstellung gibt es nur mit uns“ - jedesmal sehr schnell einknickt, wenn CDU/CSU sich sperren, ist mir bekannt.
Der Hinweis in meinem obigen Kommentar bezog sich u.a. auf diese Entscheidungen des BVerfG der vergangenen Jahre, die der CDU/CSU wohl so bitter aufgestoßen sind:
(…) Es ist verfassungsrechtlich nicht begründbar, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind …
(…) Art. 6 Abs. 1 GG als werte-entscheidende Grundsatznorm gebietet seinem Wortlaut nach keine Ungleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Soweit die Ehe als Keimzelle des Staates angesehen wird, kann dies ihre zwingende Bevorzugung nicht begründen. Auch kinderlose Ehen genießen den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG ...
(...) Die sozial-familiäre Gemeinschaft aus eingetragenen Lebenspartnern und dem leiblichen oder angenommenen Kind
eines Lebenspartners bildet (wie auch die heterosexuelle Ehe mit Kind) eine durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie ...
(...) Das Familiengrundrecht schützt auch die aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und einem Kind bestehendeGemeinschaft,
sofern diese dauerhaft angelegt ist und als umfassende Gemeinschaft gelebt wird ...
(...) Angesichts des Schutzzwecks des Familiengrundrechts ist auch eine aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und
einem Kind bestehende, dauerhaft angelegte, sozial-familiäre Gemeinschaft eine Familie im verfassungsrechtlichen
Sinne ...
Hast du ein Familienproblem?
Ich bin jetzt zu faul die Länderbeispiele auszugraben,
nehmen wir doch mal den einen auf Bundesebene, Paragraph 34 den Schily als Anwalt so schoen beschossen hatte, bevor er als Innenminister die Bürgerrechte ausgehoehlt hatte:
..."Der § 34, den der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt einmal als "Tarnwort für Verfassungsbruch" bezeichnet hat"...
Uebrigens eine sehr unverdaechtige Quelle,
die Bundeszentrale fuer politische Bildung...
Gruss
Warum kommt mir plötzlich die Doku "Als der Staat rot sah..." in den Sinn, wenn "Konservative" über Verfassungsgericht und Verfassung "diskutieren"? Oder die Arbeit "Deutsche Zustände" des Soziologen Wilhelm Heitmeyer.
Und Konservativ ist inzwischen kaum noch einer im Bundestag, mit wenigen personellen Ausnahmen. Da wird kräftig um- und abgebaut, nicht erhalten.
Danke für den Anstoß, ich habe meinen Kommentar zu einem Blog erweitert.
"Für viele Konservative mag die Rechtsprechung, die eingetragene Lebenspartnerschaft mit der bürgerlichen Ehe anzugleichen, ein regelrechter Albtraum sein" Stimmt - aber nur bei den Leuten, wo der Farbkasten nur aus SCHWARZ/ WEIß besteht!
"Das ist ein Anlaß zu Scham und ein Grund für schnellstmögliche Wiedereinführung des ursprünglichen Artikel 16, nicht für leeren hohlen Beifall." ****
Dummheit und Dreistheit (Bosbach, Kauder, Steinbach etc.) ist oft unerträglich.