Zeitenwende zwischen Berlin und Karlsruhe

65 Jahre Grundgesetz Norbert Lammert hat den Festakt im Bundestag unverhohlen dazu genutzt, um Karlsruhe scharf zu kritisieren. Ist die schöpferische Macht aus Karlsruhe in Gefahr?

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Zeitenwende zwischen Berlin und Karlsruhe

Foto: AFP / Getty Images

Der Schriftsteller Navid Kermani hat eine brillante Rede im Bundestag gehalten. Nach Papst Benedikt XVI., der im September 2011 im Bundestag eine geistreiche Rede zum Verhältnis des Naturrechts zum positiven Recht gehalten hat, durchströmt erneut intellektueller Esprit den Plenarsaal.

In den Medien ist die Rede überwiegend positiv aufgenommen worden. Dagegen weitgehend unbeachtet ist die des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) geblieben. Wenn man ihm aber genau zuhört, versteckt sich darin unverhohlen eine Generalabrechnung mit dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

In Anwesenheit des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle sagte Norbert Lammert: "Es gibt den gelegentlichen Ehrgeiz des Verfassungsgerichts die geltende Verfassung durch schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln." Eigentlich wäre dieser Satz isoliert gesehen harmlos, womöglich ein Leersatz, möchte man dem Bundestagspräsidenten doch zurufen, dass das Gericht doch genau dafür geschaffen worden ist.

Schon oft hat Karlsruhe schöpferisch das Grundgesetz fortentwickelt: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht -abgeleitet aus Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes- zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht in den 1950er und 1960er Jahren aus dem Boden gestampft, das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme -kurz Internetgrundrecht- hat das Bundesverfassungsgericht erst 2008 aus den beiden vorngenannten Artikeln des Grundgesetzes neu kreiert und niemand hat daran Anstoß genommen.

Wie sollten 1949 die Väter und Mütter des Grundgesetzes am Beispiel des Internetgrundrechts eine solche informationstechnische Entwicklung voraussehen können? Sie konnten jedenfalls abstrakt voraussehen, dass sich die Gesellschaft ändern wird und haben deshalb ein unabhängiges Gericht geschaffen, das als Hüter der Verfassung auch auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können muss.

Dass sich das Bundesverfassungsgericht über die formale Kontrolltätigkeit der anderen Verfassungsorgane hinaus eine Stellung erarbeitet hat, auch durch "schöpferische Auslegung" das Grundgesetz zu interpretieren, gehört seit Jahrzehnten zur Verfassungswirklichkeit in Deutschland.

Nun kritisiert Lammert in seiner Rede diese "schöpferische Auslegung". Ja er stellt sie sogar damit gleich, dass der Gesetzgeber manchesmal an die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit Gesetzesvorhaben voranbringen möchte und dann von Karlsruhe zurecht gestoppt werden müsse. Es ist nicht mehr zu übersehen, dass Lammert die schöpferische Tätigkeit in Karlsruhe für illegitim hält.

Dabei würde Lammert das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Internetgrundrecht sicherlich niemals infrage stellen. Zumindest das allgemeine Persönlichkeitsrecht gehört mittlerweile seit vielen Jahrzehnten zur Verfassungsidentität in Deuschland. Nein, daran stört sich Lammert nicht.

Lammert stört sich vor allem an der Rechtsprechung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft, die am Maßstab des Artikels 3 GG nunmehr sukzessive der Ehe angeglichen wird. Schon bald wird in Karlsruhe entschieden sein, dass Ehepartner und Lebenspartner bei der Auswahl für eine Adoption nicht mehr ungleich behandelt werden dürfen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft geht dann faktisch in der bürgerlichen Ehe auf.

Genauso wie Karlsruhe Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes mit neuen Grundrechten fortentwickelt hat, überwacht das Gericht, dass Artikel 3 des Grundgesetzes nicht nur formale Verfassungswirklichkeit darstellt. Wer die Rechtsprechung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft kritisiert, muss konsequenterweise auch gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht Position beziehen.

Für viele Konservative mag die Rechtsprechung, die eingetragene Lebenspartnerschaft mit der bürgerlichen Ehe anzugleichen, ein regelrechter Albtraum sein. Daraus jetzt aber eine politische Agenda zu machen und womöglich die schöpferische Gestaltung aus Karlsruhe, die einer lebendigen Verfassung so systemimmanent ist, abwürgen zu wollen, ist ein fatales Signal für den bundesrepublikanischen Verfassungsstaat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen

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