Das europäische Paradox

Europatag Brexit, AfD und Front National: Paradoxerweise liegt gerade in der Krise die Chance, die EU zu erneuern. Dazu müssen wir auch auf EU-Ebene endlich mehr Demokratie wagen

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Warum bringt uns die europäische Krise nicht näher zusammen?
Warum bringt uns die europäische Krise nicht näher zusammen?

Foto: Daniel Mihailescu/AFP/Getty Images

An allen Ecken scheint die EU gerade vor unseren Augen auseinanderzubrechen. Der „Brexit“ war der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahren abgezeichnet hat. Es gab zuvor schon einige Warnhinweise, auf die wir nicht reagiert haben. Ich erinnere an das gescheiterte Verfassungsreferendum in Frankreich und in Holland. Ich erinnere daran, dass sich über viele Jahre hinweg einige osteuropäische Länder zu populistisch-autoritären Staaten weiterentwickelt haben. In ganz Europa ist der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Der Aufstieg von AfD, Front National und anderen europafeindlichen Parteien zeigt, dass der „Brexit“ nur der vorläufige Höhepunkt war. Für uns muss der „Brexit“ der letzte Warnschuss sein!

Wie unrealistisch und absurd mag in dieser Zeit der Ruf nach mehr europäischer Integration und der Ruf nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ klingen? Und trotzdem sage ich ganz klar: Genau jetzt müssen wir über eine Vision für Europa und eine Fortentwicklung der Europäischen Union reden! Denn ein schlichtes und pures Dagegensein gegen die Populisten ist zu wenig! Wir brauchen eine konkrete Vorstellung davon, wo wir hinwollen. Europa braucht eine neue Idee!

Denn die Kernziele der Europäische Union, Frieden, Sicherheit und Freiheit, sind in Gefahr. Bis vor wenigen Jahren klang das für die meisten Bürger nicht nur in Deutschland sehr abstrakt, nach SoWi-Unterricht und Telekomwerbung. Die EU schien immer stabiler zu werden, wenige trieb die Frage nach europäischer Integration und Stabilität um. Warum auch, es lief ja alles gut.

Die ersten Risse entstanden mit der Finanzkrise 2008. Als viele Europäer ihr Erspartes verloren, war auf einmal Sicherheit wieder ein Thema. Dann kam ab 2014 mit der Ukrainekrise die zunehmende Anspannung der europäisch-russischen Verhältnisse dazu. Trump folgte 2016. Und auf einmal ist auch Krieg wieder ein Thema. Über die Hälfte der Deutschen, Franzosen und Briten vermutet heute, dass ein großer Krieg bevorsteht (Krastev, 2017). Auf die Ukrainekrise folgte die sogenannte Flüchtlingskrise, die zur Schließung vieler EU-Grenzen führte. Und so ist Freiheit wieder ein Thema geworden. Es ist also wieder soweit: die Kernziele der Europäischen Integration sind in Gefahr.

Paradoxerweise ist genau das, was uns hier auseinandertreibt, eigentlich etwas, das uns als europäische Bürger enger zusammenbringen sollte. Die Finanzkrise und Steuerflucht rufen nach einer Lösung auf europäischem Level: wenn Banken und Konzerne einfach ins nächste Land gehen und da ihr Unwesen weitertreiben, hilft das am Ende keinem. Mit der Ukrainekrise und Trump sieht es ähnlich aus: Um uns hier zu behaupten, müssen wir uns als europäische Einheit mit eindeutiger Position und handlungsfähigen Institutionen zeigen. Und auch die Einwanderungs- und Asylfrage kann weder Deutschland, noch Griechenland oder Italien alleine lösen. Diese Erkenntnisse zwingen uns, über europäische Lösungen nachzudenken.

In 120 Städten Europas sind Bürgerinnen und Bürger unter dem Motto „Pulse of Europe“ auf die Straße gegangen. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge wünschen sich 61 Prozent der EU-Bürger eine engere Integration der Union. Gerade bei den jüngeren Generationen ist in den vergangenen zwei Jahren ein unheimlicher Europa-Enthusiasmus deutlich geworden – nicht trotz der Krise, sondern gerade wegen ihr! Laut einer Studie der TUI-Stiftung sind 71 Prozent der jugendlichen Europäer gegen einen Austritt ihres Landes aus der Union. Daraus ergeben sich Ansprüche und Hoffnungen für die Zukunft: Ob das mehr direkte Demokratie oder die Einführung von kostenlosen Interrail Tickets für Jugendliche ist.

Diese Hoffnungen der Menschen gilt es jetzt, auf EU-Niveau umzusetzen. Denn so, wie die Europäische Union heute organisiert ist und den Menschen in Erscheinung tritt, verkörpert sie nicht mehr diese Begeisterung für die europäische Grundidee. Deshalb ist mein großes Anliegen, dass wir zwischen der positiven Kraft der europäischen Idee und dem Wunsch der Menschen, die EU dementsprechend zu gestalten, wieder eine Einheit herstellen. Dafür braucht es neue Ansätze. Und gerade jetzt, da mit dem „Brexit“ so viel in Bewegung geraten ist, haben wir auch die Chance, innovative Ideen umzusetzen.

Eine der weitreichendsten Ideen ist die der „Vereinigten Staaten von Europa“. Aber wie sähe so etwas konkret aus? Eine Option wäre, nach deutschem Vorbild bestimmte Entscheidungsbereiche, wie etwa Bankenregulierung und Sicherheit, zentral zu managen. Wie weit wir da gehen, bleibt offen: In den Vereinigten Staaten von Amerika ist Arbeitslosenversicherung eine Sache der einzelnen Staaten, in Deutschland behalten die Länder ihre Entscheidungskraft beim Thema Bildung. Jedes föderale System muss seine eigene Balance zwischen Freiheit und Zentralismus finden. Das wirft dann auch die Frage auf, ob wir dann eine europäische Präsidentin oder einen Präsidenten mit stärkerer demokratischer Legitimation bräuchten – oder eben nicht.

Robert Menasse liefert da einige Ansätze. Zum Beispiel könnten wir das europäische Parlament überarbeiten und den Nationalismus auf der Ebene bremsen: Würden sich alle Abgeordneten allen EU-Bürgern zur Wahl stellen – und nicht nur in ihren eigenen Heimatländern – wären sie dann auch nicht mehr vorrangig ihren nationalen Interessen verpflichtet, sondern der ganzen Union. Wer gewählt werden will, muss dann nicht nur den Rentner in Rheinland-Pfalz überzeugen, sondern auch den Rechtsanwalt in Rumänien.

Denn so wichtig es auch ist, in Brüssel die richtigen Schritte zu gehen – wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern überall in den 27 Mitgliedsstaaten auch das Gefühl geben, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Sonst bekämpfen wir den auf Isolation ausgerichteten Nationalismus nicht. Im Gegenteil, wenn die „Vereinigten Staaten von Europa“ ein Brüssel-Projekt bleiben, bestärken wir eher die EU-Skeptiker. Die „Leave“-Kampagne für den „Brexit“ war auch deshalb so erfolgreich, weil nur etwa ein Drittel der Briten ein europäisches Identitätsgefühl hatten.

Es gibt auch Stimmen, die noch weitergehen als die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Die Plattform „european-republic.com“ der deutschen Politologin Ulrike Guérlot möchte eine europäische Republik gründen – keine Neuauflage des alten föderalistischen Traums. Damit wären dann die Geschichten von EU-Staaten, die sich gegenseitig blockieren, passé, die EU-Bürger könnten ihre eigene Regierung wählen. So illusorisch es klingt, wäre das eine Vision, an der wir arbeiten sollten?

Entwürfe gab es über die vergangen 250 Jahre reichlich – Enthusiasmus auch. Schon George Washington glaubte, dass der „Keim von Frieden und Freiheit“ nach den „Vereinigten Staaten von Amerika" auch eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa“ hervorbringen würde. Meine Partei, die SPD, schrieb es 1925 in ihrem Heidelberger Parteiprogramm als eines der Kernziele kommender Jahrzehnte fest.

Auch heute stehen wir als Partei dahinter. Ich glaube, dass wir das auch müssen. Denn die Erneuerung der SPD geht mit einer Erneuerung der EU Hand in Hand. Als sozialdemokratische Partei sind wir in der Pflicht, den Bürgerinnen und Bürgern Antworten auf die großen Fragen der digitalen Marktwirtschaft anzubieten: Was passiert mit meinem Job, wenn die Digitalisierung ihn theoretisch ersetzen könnte? Führt das bedingungslose Grundeinkommen in die richtige Richtung? Könnte Blockchain-Technologie Ansätze bieten, um zum Beispiel Stromanbieter dezentralisiert zu kontrollieren und Strom besser zu verwalten? Für alle diese Fragen werden wir europaweite Lösungen brauchen, aber vor allem eine Erneuerung der Strukturen.

Mir ist es ehrlich gesagt nicht wichtig, ob dann in einigen Jahren offiziell „Vereinigte Staaten von Europa“ auf meinem Pass steht. Mir ist wichtig, dass ich den Pass zuhause lassen kann, wenn ich durch Europa reise. Es kommt mir darauf an, ob wir dann diese historische Chance genutzt haben, die europäische Integration voranzutreiben. Dass wir europaweite Antworten auf Fragen wie Bankenregulierung, Terrorismus und Migration umsetzen können. Wenn sich dann einige weigern, das offiziell als „Vereinigte Staaten von Europa“ zu bezeichnen, sei’s drum. Politik wird aus Mut gemacht. Europa wird aus Mut gemacht. Es hat Mut gekostet, die EU zu gründen, genauso kostet es jetzt Mut, die EU zu erneuern.

Krastev, I. (2017) Europadämmerung. Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp. Seite 12.

Die EU will 700 Millionen Euro für Interrail Tickets zur Verfügung stellen: https://www.zeit.de/mobilitaet/2018-05/free-interrail-europaeische-kommission-gelder-zugtickets-junge-menschen.

Zum Interview mit Robert Menasse: https://saveliberaldemocracy.com/2017/08/22/towards-a-united-europe-of-regions/

Zur Plattform "European Republic": https://european-republic.eu/en/#why

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Stich

Generalsekretär und Landesgeschäftsführer der SPD Rheinland-Pfalz

Daniel Stich

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