Zeitgeschichte Als das postsozialistische Regime des Präsidenten Iliescu 1990 erste freie Wahlen nach Nicolae Ceausescu gewann, reagierten die Bürger in Bukarest mit Aufruhr
Ein altmodisches, dunkel getäfeltes Arbeitszimmer, ein schwerer Schreibtisch aus Holz: das Arbeitszimmer von Marian Munteanu, der müde wirkt, als er 20 Jahre danach über die Ereignisse vom Juni 1990 zu sprechen beginnt. Er war seinerzeit einer der Anführer, als Proteste auf dem Bukarester Universitätsplatz durch aufmarschierende Bergarbeiter blutig beendet wurden. Es gab sechs Tote und den vorläufigen Höhepunkt eines innenpolitischen Machtkampfes. Begonnen hatte der bereits kurz nach dem Sturz von Nicolae Ceausescu Ende 1989. Damals übernahm die Front zur Nationalen Rettung (FSN) unter Führung des neuen Staatschefs Ion Iliescu die Regierungsgeschäfte, nachdem der Diktator hingerichtet und das gesamte Politbüro verhaftet worden war.
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Ion Iliescu war ein versierter Taktiker, der seit 1972 parteiintern auf ein Abstellgleis geriet, doch im Dezember 1989 instinktiv spürte, dass die Stunde gekommen war, die Führung des Landes zu übernehmen. Seine FSN bekannte sich ausdrücklich zur Meinungs- und Reisefreiheit, stützte sich aber in den Provinzen auf die aus der Ära Ceausescu überkommenen Machtstrukturen. Zudem kandidierte die FSN – entgegen ihrer ursprünglichen Ankündigung – als Partei zu den Parlamentswahlen am 20. Mai, übernahm die Kontrolle über das Staatsfernsehen und reorganisierte den Geheimdienst. Die neu entstandenen Oppositionsgruppen wollten wissen, wer für die mehr als tausend Toten verantwortlich war, die es beim Umsturz im Dezember 1989 gegeben hatte. Die traditionellen rechtsbürgerlichen Parteien wiederum, die zu Zeiten Ceausescus verboten waren, verlangten, es müsse für Kader der ehemaligen Kommunistischen Partei prinzipiell verboten sein, sich um das Amt des Staatspräsidenten zu bewerben. Dies zielte auf Ion Iliescu, der mit guten Aussichten in die gleichsam für den 20. Mai 1990 anberaumte Präsidentenwahl ging.Am 22. April, nach einer der zahllosen Demonstrationen in diesen turbulenten Wochen, besetzte eine provisorische Koalition aus Studenten, Geistlichen, Oppositionsgruppen und wieder auferstandenen Parteien den zentral gelegenen Universitätsplatz der rumänischen Hauptstadt. Unversehens wurde die Belagerung zum Dauerprotest gegen die Regierung Iliescu und zum allabendlichen Happening. Bis zu 10.000 Menschen versammelten sich Tag für Tag in der – wie man es getauft hatte – „kommunismusfreien Zone“, um Reden zu hören, zu beten und zu singen.Marian Munteanu war als Sprecher der Studentenliga von Anfang an dabei und erinnert sich heute noch an den Wunsch aller Beteiligten, nie Zweifel an ihrer Friedfertigkeit aufkommen zu lassen. Leider ein Wunschtraum. Der Weg, den Rumänien nach dem Dezember 1989 einschlug, sei ideologisch überlagert gewesen: „Wir sahen uns der Gefahr einer Diktatur gegenüber, die dem Kommunismus ähnelte. Die neuen Führer waren einfach Teil des alten Systems. Wir verlangten wirkliche Reformen, aber vor allem: Nie wieder Kommunismus!“ Auch rechtsextreme Kreise hatten sich um diese Zeit mit nationalpatriotischem Furor und dem Gerede von einem Groß-Rumänien Gehör verschafft, unter ihnen ehemalige Angehörige der „Legionäre“ aus den frühen vierziger Jahren, als Rumänien zu Hitlers Satelliten-Staaten zählte.Präsident Iliescu nannte die Demonstranten via Staatsfernsehen „Hooligans“. So kehrte auch der Arbeiter Lucian Guga, der zunächst mit dem Protest sympathisierte, den Platz-Besetzern wieder den Rücken. „Die waren nur da und sangen und schrieen: ‚Wir hassen Iliescu! Wir hassen den Kommunismus! Aber sie hatten keine Alternativen, kein wirkliches Programm“, erinnert er sich.Als die FSN und Ion Iliescu die Wahlen am 20. Mai haushoch gewonnen hatten, blieb der Universitätsplatz von Bukarest ein Ort des Aufruhrs. Inzwischen waren einige Demonstranten in den Hungerstreik getreten und hatten Zelte aufgeschlagen. Für Marian Munteanu war das keine Option. Wer damals weiter ausharrte – „das waren kleine, unabhängige Gruppen, denen es darum ging, Randale zu machen. Die waren aggressiv und auf Provokationen aus.“Sonderzüge nach BukarestAndere Zeitzeugen machen im Rückblick Iliescus Geheimdienst für die „Provokationen“ verantwortlich. Etwa zehn Prozent der Demonstranten seien Agenten einer Spezialeinheit des Innenministeriums gewesen, die erst im Januar 1990 aus ehemaligen Securitate-Leuten rekrutiert wurde. Die Eingeschleusten hätten berichtet, es werde einen Putsch geben. Daraufhin wurde beschlossen, den Universitätsplatz zu räumen. Am Morgen des 13. Juni 1990 umstellten daraufhin Polizeieinheiten das Gelände, um es zu stürmen; die Hungerstreikenden, die nicht weglaufen konnten, wurden verprügelt, die Zelte zerstört. Straßenkämpfe brachen aus, Molotow-Cocktails wurden geworfen, die Polizei musste sich zurückziehen. Im Gebäude des Staatsfernsehens, im Polizeihauptquartier und Innenministerium wurde Feuer gelegt. Marian Munteanu meint im Rückblick, die Regierung habe diese Ausschreitungen gebraucht: „Die Polizei provozierte, um einen Vorwand für die darauf folgende Gewalt zu haben.“Wie auch immer, jedenfalls wurden die Bilder von Anarchie und Chaos im Fernsehen ausgestrahlt, danach richtete sich Ion Iliescu mit einem Appell an das Volk: „Faschisten“ würden einen Umsturzversuch wagen, die Demokratie sei in Gefahr, das Volk solle aufstehen und schützen, was es im Dezember 1989 errungen habe. Der Arbeiter Lucian Guga erinnert sich: „Verteidigt Rumänien! Verteidigt die Revolution!“ habe Iliescu gerufen und: „Zerstört die Leute vom Universitätsplatz!“ Noch am Abend marschierten Stahlwerker mit Knüppeln in die Innenstadt, um „für Ordnung zu sorgen“. Das Fernsehen zeigte die ganze Nacht Bilder der Ausschreitungen.Am Vormittag des 14. Juni schließlich erreichten mehrere tausend Bergarbeiter aus dem Schiltal in Sonderzügen die Hauptstadt, die Operation Lilie begann. Allgemein wird angenommen, Ion Iliescu habe sie kommen lassen, doch gibt es dafür keinen greifbaren Beweis. Mit der Parole Wir wollen arbeiten und nicht denken! stürmten und verwüsteten sie die Fakultät für Architektur und machten Jagd auf alles, was ihnen intellektuell erschien. Intellektuelle galten als arbeitsscheu und Außenseiter. Viele Bukarester sahen zu und spendeten den Bergleuten Beifall. Hunderte Anführer wurden verprügelt und dann der Polizei übergeben. Wie sich heraustellte, waren unter den etwa 1.200 Festgenommenen auch viele Roma, die mit den Protesten gar nichts zu tun hatten. Neben Hunderten von Verletzten gab es an diesem dramatischen 14. Juni auch sechs Todesopfer. Niemals wurde dafür bis heute irgendjemand zur Verantwortung gezogen. Die Minenarbeiter konnten sich darauf verlassen, geschont zu werden, immerhin hatten sie es als einzige gewagt, schon zu Zeiten Nicolae Ceausescus zu streiken. Nun dankte ihnen Präsident Iliescu persönlich für ihre patriotische Tat im Bukarester Frühsommer des Jahres 1990.Transportminister BăsescuMarian Munteanu wurde nach diesen Vorgängen für einige Jahre Mitglied der Rumänischen Heimstätte, einer rechtsextremen Vereinigung, Im Jahr 2000 ließ er sich kurzzeitig als Präsidentschaftskandidat für die nationalliberale PNR aufstellen. Inzwischen will er mit Politik nichts mehr zu tun haben und widmet sich ganz seiner Arbeit als Ethnologe. „Dieser Staat ist eine Katastrophe. Das Fundament ist schlecht, das System falsch.“Als Transportminister war Traian Băsescu für die Sonderzüge der Bergarbeiter verantwortlich – damals ein politischer Ziehsohn Iliescus, heute der Präsident des Landes. Seit Ceausescu ist die Denkweise verbreitet, das „Fremde“ bedrohe das rumänische Erbe: Roma, Juden, Ungarn, der Westen. Immer wieder wird an der Rehabilitierung des Diktators und Hitler-Kollaborateurs Ion Antonescu gefeilt – auf der Berlinale 2010 lief der rumänische Film Portrait of a Fighter as a Young Man, der einen antikommunistischen und antisemitischen Untergrundkämpfer verherrlicht.
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